Aufgaben für Deutschland und Europa in der globalen Politik nach dem Irak-Krieg
1. Aufgabe:
Europa muss einen Ausgleich schaffen für die falsche Prioritätensetzung und gefährliche Ressourcenbindung durch den Irak-Krieg und durch die Langzeit-Aufgaben des „Nation Building" im Irak.
- Die Vereinigten Staaten und ihre Koalitionspartner haben mit einem riesigen militärischen Aufwand das Regime in Bagdad beseitigt. Die präemptive Gewaltanwendung wurde mit der großen Gefahr begründet, die von gefährlichen Massenvernichtungswaffen in der Hand des Regimes ausging - sowohl für die Nachbarn des Irak als auch für die Vereinigten Staaten selbst. Bisher hat sich die Existenz dieser potentiellen Bedrohung nicht bestätigt.
- Die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, die Abdeckung elementarer Bedürfnisse der Zivilbevölkerung und der Wiederaufbau funktionierender staatlicher Funktionen, all das erweist sich als ein schwieriger und zeitraubender Prozess, der auf längere Zeit erhebliche Ressourcen bindet. Diese Ressourcen stehen für die Lösung anderer Probleme nicht zur Verfügung.
- Die Nachkriegsprobleme im Irak schränken die internationale Handlungsfähigkeit Washingtons ein. In den Vereinigten Staaten selbst wird diskutiert, welche Auswirkungen das Irak-Engagement auf den Kampf gegen die noch nicht gebrochene Handlungsfähigkeit der Al-Qaida-Netzwerke haben wird. Eine Drosselung der amerikanischen Aktivitäten in Afghanistan kann sich verheerend auswirken. Das Beispiel Liberia zeigt, dass Washington in dieser Situation zögert, dem Drängen nach einer friedensschaffenden Intervention an einem anderen Schauplatz nachzugeben.
- Europa sieht sich herausgefordert, dieser problematischen Entwicklung gegenzusteuern. Die Restabilisierung des Irak darf nicht scheitern, dies darf aber nicht zu inakzeptablen Problemen und Opfern andernorts führen: Die nachhaltige Stabilisierung Afghanistans, die Umsetzung der „Road Map" für die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts, die Beendigung der blutigen Bürgerkriege in Afrika, die Fortsetzung des Befriedungsprozesses auf dem Balkan, all diese Aufgaben beanspruchen - neben der Fortführung des Kampfs gegen den Al Qaida-Terrorismus - eine gleichrangige Priorität. Es ist im Interesse der Weltgemeinschaft und auch der Vereinigten Staaten, dass diese sicherheits- und friedenspolitischen Ziele als unmittelbare Folge des Irak-Kriegs nicht vernachlässigt werden. In diesem Kontext stehen das deutsche Engagement in Afghanistan und in Südosteuropa ebenso wie das gegenwärtige französische im Kongo.
2. Aufgabe:
Europa muss die amerikanische Regierung davon zu überzeugen versuchen, dass eine Verantwortungsübertragung an die Vereinten Nationen im Irak den Friedensprozess beschleunigen und amerikanisches Leben retten würde.
- Eine neue Sicherheitsrats-Resolution, die allein eine Brücke baut zu einer stärkeren Beteiligung anderer Länder im Irak und dabei der Logik des „burden sharing" folgt, löst die Probleme nicht. Auch wenn noch einige Länder mehr bewaffnete Kräfte in den Irak zur Unterstützung der USA und ihrer Koalition entsenden, wird dies den Widerstand gegen die amerikanische Okkupation nicht beenden.
- Eine wirklich neue Lage entstünde erst dann, wenn die Vereinten Nationen das Mandat für den Friedens- und Wiederaufbauprozess im Irak übernehmen würden. Im Rahmen eines solchen Mandates der Vereinten Nationen könnten die Vereinigten Staaten weiterhin eine entscheidende Rolle spielen, ohne in ihrer jetzigen All-zuständigkeit der Adressat jeder Form von Unzufriedenheit bleiben zu müssen.
- Die Staaten Europas, die gegen den Irak-Krieg waren, haben es noch nicht geschafft, diesen Zusammenhang in den Mittelpunkt der Debatte um eine neue Sicherheitsrats-Resolution zu stellen. Schon entsteht der falsche Eindruck, die Frage der Rolle der Vereinten Nationen im irakischen Post-War-Szenario sei eine europäische Prinzipienreiterei. Dieser Eindruck muss korrigiert und der amerikanische Bündnispartner davon überzeugt werden, dass ein komplettes „Nation Building" aus der Okkupantenrolle heraus der denkbar schwierigste und verlustreichste Weg sein wird, zu dessen Vermeidung allein die Verantwortungsübertragung an die Vereinten Nationen führen würde.
3. Aufgabe:
Deutschland sollte einen neuen Impuls zur Dynamisierung des politischen Stabilisierungsprozesses in Afghanistan geben und damit auch einen überzeugenden Rahmen für die notwendige Ausweitung der Sicherheitsmaßnahmen in der Übergangsphase schaffen („Petersberg 3").
- Afghanistan droht erneut zum Opfer zu werden: diesmal zum Opfer der vollständigen Konzentration aller Aufmerksamkeit und aller politischen Kräfte auf die Irakkrise. Wir bekommen derzeit Nachricht von praktisch jedem Anschlag im Irak, während es sich als wesentlich schwieriger erweist, eine annähernd realistische Vorstellung der Entwicklung in Afghanistan zu gewinnen.
- Diese gefährliche Einäugigkeit sollte umgehend durch eine internationale Bilanzierung und Evaluierung des Übergangsprozesses in Afghanistan („Petersberg 3") durchbrochen werden, Deutschland hat sich durch sein bisheriges Engagement im Petersberg-Prozess sowie durch seine substantiellen Beiträge im Rahmen der ISAF-Mission und beim zivilen Aufbau des Landes das eine Verpflichtung einschließende Recht erworben, einen entsprechenden Anstoß zu geben.
- Erst in Verbindung mit einer solchen kritischen Überprüfung der politischen Rahmenbedingungen macht es Sinn, der Übergangsregierung Karsai in geeigneter Weise dabei zu helfen, ihren Verantwortungsradius über Kabul hinaus weiter im Land auszudehnen. Es ist vernünftig, dass die Bundesregierung erst nach gründlicher Analyse die Frage entscheiden wird, inwieweit Deutschland einen Beitrag nach dem Konzept der „Provincial Reconstruction Teams" leisten kann. Wenn die Bundesregierung einen solchen Einsatz vorschlägt, braucht dieser in jedem Fall eine breite parlamentarische Unterstützung.