Artikel für Nezavisimaja Gazeta, 26. November 2003 

Yukos oder die Notwendigkeit, unangenehme Fragen zu stellen

Am Montag, den 29. September 2003, war der Konferenzsaal des vornehmen Adlon-Hotels in Berlin überfüllt. Alt-Außenminister Hans-Dietrich Genscher führte einen Gast aus Russland ein, den viele sich ganz anders vorgestellt hatten: den reichsten Mann Russlands, den „Oligarchen" Michail Chordorkowskij. Ans Rednerpult trat ein fast zierlicher, schüchtern wirkender Mann mit auffallend leiser Stimme. Er erzählte nichts vom Ölgeschäft. Er ließ sich keine politischen Bemerkungen entlocken. Für eine halbe Stunde berichtete er über seine Stiftung "Offenes Russland", über die Bedeutung von Bildung und neuen Medien und warum er die Entwicklung einer Zivilgesellschaft in Russland für wichtig und unterstützenswert halte.

Die Zuhörer klatschten artig Beifall. Viele werden sich gedacht haben: Wie konnte ein so kultivierter, nachdenklicher Mann im brutalen Ölbusiness so schnell nach oben kommen? Da braucht man doch eigentlich andere Attribute, harte Ellenbogen, Durchsetzungskraft. Oder war es nur die gelungene Show, das trickreiche Understatement eines, der auch ganz anders kann? Und der eine oder andere Kenner zog Vergleiche. Kennen wir nicht diese scheinbare Zierlichkeit, das bescheidene Auftreten, die bewusst leise Stimme von noch einem anderen Mächtigen aus Moskau?

Am 25. Oktober ließ der eine Bescheidene den anderen Bescheidenen in Untersuchungshaft nehmen, verordnete ihm "Matrosenstille". Kein Mensch in Russland glaubt, dass der Generalstaatsanwalt Ustinow dies allein entschieden hat. Bei uns auch keiner. Diese Festnahme hat weltweit Aufsehen erregt. Die deutsche Bundesregierung reagierte vergleichsweise zurückhaltend. Sie erklärte, dass sie die Vorgänge "aufmerksam beobachte". In der Diplomatensprache heißt das: Wir können uns da einiges nicht erklären und bitten dringend um Auskunft.

Aber eine solche Auskunft ist bisher nicht erteilt worden, jedenfalls keine befriedigende. Und deswegen ist das passiert, was in solchen Fällen immer passiert. Der "Fall Yukos" gibt einen wunderbaren Stoff für die kollektive Phantasie ab, ein richtiges Weihnachtsgeschenk für die Medien, die immer auf der Suche nach einer verkaufsfördernden Story sind: Der mächtigste Mann Russlands gegen den reichsten Mann Russlands - zugegeben ein Ölmagnat, aber doch auch ein Stifter und Wohltäter, dessen Firma im Jahr 2002 zwar 4,5 Mrd. US-Dollar an den russischen Fiskus abgegeben hat, der aber selber trotzdem so viel Steuern hinterzogen haben soll, dass er sein gutes Leben mit Wasser und Brot tauschen soll.

Und Russland hat geliefert. Fast täglich kam Nachschub, damit die Story nicht austrocknet. Innenminister Boris Gryslow forderte lautstark :"Die russischen Bodenschätze müssen dem russischen Volk gehören!" Im Wahlkampf passieren die tollsten Sachen, überall. Aber irgendwie kommt man sich doch wie im falschen Drehbuch vor. Gryslow führt "Edinaja Rossija", die Partei des Reformpräsidenten Putin. Bodenschätze im Besitz des Volkes hat es in Russland ja schon gegeben, über 70 Jahre lang. Wenn es Gennadij Sjuganow gefordert hätte, o.k. Aber Gryslow?

Und dann kippt der Präsident auch noch die Machtbalance, die in Russland vier Jahre lang einen ziemlich stabilen politischen Rahmen gesetzt hat. Er löst Alexander Woloschin durch Dmitrij Medwedew an der Spitze der Kreml-Administration ab. Die Kommentare sind überall dieselben: Das verspätete Ende der Jelzin-Ära ist gekommen, die "Familie" muss gehen, die "Silowiki" blasen zum Angriff. Sie sind hungrig, sie haben bei der wilden Privatisierung der 90er nichts abgekriegt. Man fragt sich, ob das jetzt korrigiert werden soll.

Überhaupt löst jede neue Nachricht aus Russland im Westen neue Fragen aus. Plötzlich erinnert man sich an ein Papier des "Rats für Nationale Strategie" vom 27. März dieses Jahres. Es trägt den Schrecken einflößenden Titel "Russland steht an der Schwelle eines Oligarchen-Umsturzes. Das Jahr 1797 nähert sich." Ich wäre nicht darauf gekommen, dass Russland heute dasteht wie die Republik Venedig im Jahr 1797, kurz vor dem Ende durch Napoleons Truppen. Und ich lese: "Die einzige Chance zur Rettung Russlands als geopolitische und ethnokulturelle Identität ist die Abwehr der Oligarchen-Modernisierung".

Hat Ustinow nun einen notorischen Steuerhinterzieher und Betrüger hinter Gittern gebracht, oder rettet er gerade Russlands Existenz? Sehen wir ein neues Kapitel der „Diktatur des Rechts", die nach Wladimir Putin auch den reichsten Mann des Landes ereilen sollte, oder werden wir Zeuge eines Befreiungsschlages gegen die Oligarchen-Verschwörung?

Die russlandinteressierten Beobachter in Deutschland und anderswo brauchen nicht selber zu analysieren. Die Deutungen werden geliefert, en masse und aus Russland selbst. Gleb Pawlowskij, bisher nicht unbedingt als Kremlgegner aufgefallen, ruft uns zu: „Es ist klar, dass es sich um die Vorbereitung eines politischen Schauprozesses handelt". Dagegen wirkt Jawlinskijs Sarkasmus („von Putins gesteuerter Demokratie ist nur noch die Steuerung übrig") fast zurückhaltend. Nicht so bei Boris Nemtsow, den die „Nezavisimaja Gazeta" vom 28.10. mit den Satz zitiert: „Ein Sieg der Silowiki, die auf die wirtschaftlichen Interessen des Landes pfeifen, ist eine feste Wendung in Richtung Diktatur".

Da geht etwas kaputt. In Deutschland gibt es viel Vertrauen in den Weg Russlands. Bei uns verehrt man Michail Gorbatschow, weil er die Perestroika gewagt und die DDR von der Leine gelassen hat. Jelzin war uns der Held gegen den Augustputsch 1991 und so menschlich nah als Saunapartner von Helmut Kohl. Gut, damals ging einiges durcheinander. Deswegen haben wir verstanden, dass das Land Putin braucht, haben das Wort "Machtvertikale" zu buchstabieren gelernt und staunen immer wieder darüber, wie ehrlich des Präsidenten Begeisterung fürs Deutsche ist. Doch, wir reden über Tschetschenien, bei jeder Veranstaltung über Russland und mit unseren russischen Gästen (und wehe, wir vergessen es einmal) - aber wir tun es ungern. Wir reden lieber über unsere guten Beziehungen, über den Export nach Russland, der 2002 um 11 Prozent gestiegen ist, über märchenhaft teure strategische Kooperationsprojekte und über die Zusammenarbeit unserer Zivilgesellschaften, für die der Bundeskanzler und der Präsident eigens den "Petersburger Dialog" aus der Taufe gehoben haben.
Aber was sagt uns jetzt die russische Zivilgesellschaft? Da gibt es eine Erklärung der Allrussischen Konferenz Zivilgesellschaftlicher Organisationen in Moskau vom 28. Oktober über den Fall Chodorkowskij. Es lohnt sich, eine etwas längere Passage zu zitieren, um zu erklären, was gerade kaputt geht. Die Autoren schreiben:

"Wir sind davon überzeugt, dass Chodorkowskij nicht verhaftet wurde, weil er irgendwann, wie die Staatsanwaltschaft behauptet, Steuern nicht gezahlt oder unrechtmäßig Eigentum erworben hat. Er wurde verhaftet, weil er begonnen hatte, ehrlich Steuern zu zahlen und seine Vermögensverhältnisse offen zu legen. Aber genau die Absicht, seine Geschäfte aus dem Schatten zu holen, ist äußerst gefährlich für diejenigen, deren Wohlstand und Macht untrennbar davon abhängt, dass in unserem Land die "Schattenwirtschaft" dominiert.

Wir sind überzeugt, dass Chodorkowskij nicht verhaftet wurde, weil der von ihm geführte Konzern ohne sich zu schämen seine Mitarbeiter ausbeutet und die Naturschätze Russlands ausraubt. Er wurde verhaftet, weil er als einer der ersten laut über soziale Verantwortung von Unternehmern und Unternehmen gesprochen und in großem Maße begonnen hat, Projekte im Bereich Bildung und Soziales zu initiieren."

Diese Deutung kann man nicht einfach beiseite wischen, weil sie etwas plausibel macht. Sie erklärt die Wut des Systems auf gerade diesen Oligarchen. Das kann es sein, was den Vize-Generalstaatsanwalt Kolesnikow jüngst dazu gebracht haben mag, eine 12- oder gar 24-monatige U-Haft für den Oligarchen anzukündigen, um dann zu bedauern, dass er wohl kaum zu mehr als 10 Jahren Haft verurteilt werden könne. ("Mehr können wir ihm leider nicht geben!"). In einem Land wie Deutschland, wo unser Rechtssystem vorschreibt, ein Angeklagter habe als unschuldig zu gelten, solange er nicht verurteilt ist, klingt das sehr schrill in den Ohren.

Da geht etwas kaputt, wenn wir zusätzlich eine Meldung lesen, das Landwirtschaftsministerium Jakutiens habe nun auch noch herausgefunden, dass auf einem Bauernhof der Yukos-Firma Sachaneftegas die Regeln der Kaninchenzucht grob verletzt werden (unglaublich: Kaninchenböcke und -weibchen würden zu dritt oder viert in einem Käfig gehalten, mit der Folge vieler zufälliger Paarungen). Die Botschaft ist klar. Steuerhinterziehung wirkt in Russland als Vorwurf eher schwach, weil dieses Delikt im Wirtschaftsleben breitflächig als Überlebensstrategie gilt. Das Bild des drohenden "Oligarchen-Umsturzes" verfügt schon über mehr Realitätsnähe, da Chodorkowskij ja offen seine finanzielle Unterstützung für Oppositionsparteien angekündigt hat. Aber artungerechte Tierhaltung - das versteht jeder Muschik, da kocht die Volksseele. Fragt sich bloß, warum im fernen Jakutien das Landwirtschaftsministerium die Kaninchen-Praktiken eines Yukos-Bauernhofs überprüft, nur weil in Moskau der Yukos-Chef wegen Steuerhinterziehung angeklagt ist? Was da kaputt geht, ist die bisherige Gewißheit, dass Gleb Pawlowski nicht Recht haben kann mit seiner Prognose eines Schauprozesses.

Aus der bisherigen Gewißheit macht der Yukos-Fall eine Ungewissheit. Wirft eine ganz bange Frage auf, wohin nämlich dieses Russland geht, dem wir vertrauen wollen, mit dem wir Geschäfte machen wollen, mit dem wir über gemeinsame Anstrengungen für eine bessere Weltordnung nachdenken wollen und dem wir eigentlich nur dann unangenehme Fragen stellen, wenn es gar nicht mehr anders geht. Im Moment geht es nicht mehr anders.


Gernot Erler ist Mitglied des Deutschen Bundestages, Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, Vorsitzender der Deutsch-Russischen Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag und Koordinator für die deutsch-russische zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt.