EU unterstützt Proteste gegen Wahlergebnis in der Ukraine. Interview mit dem DeutschlandRadio, 24. November 2004

EU unterstützt Proteste gegen Wahlergebnis in der Ukraine

Meurer: Die Bilder erinnern an die Massenproteste in Osteuropa in den Wendejahren von 1989 und 1990 und auch diesmal geht es wie zum Beispiel 1989 in der DDR um den Vorwurf, dass Wahlen gefälscht worden sind. EU, USA und OSZE halten die Vorwürfe für gerechtfertigt. Gestern wurden die ukrainischen Botschafter in der EU allesamt einbestellt, auch in Berlin. Dort am Telefon begrüße ich nun den stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion Gernot Erler. Guten Morgen Herr Erler!

Erler: Guten Morgen Herr Meurer.

Meurer: Wie viel Unterstützung verdienen die Demonstranten in Kiew?

Erler: Ich glaube sie verdienen jede Unterstützung und die EU-Länder haben angefangen, das auch zu tun. Es ist ganz ungewöhnlich, dass in so einem Fall die Botschafter einbestellt werden. Es ist auch ungewöhnlich, dass man von außen fordert, dass eine zweite Auszählung und eine Überprüfung der Wählerlisten stattfindet. Ich kann mich kaum besinnen, dass so eine Situation schon mal da war. Das ist eine echte neue Situation und ich bin froh darüber, dass die EU-Länder doch hier sehr energisch sich auf die Seite der orangenen Proteste stellen, denn hier ist wirklich so etwas wie eine Auseinandersetzung zwischen einem alten Regime, das mit allen Mitteln, auch der Fälschung eben versucht hat, sich an der Macht zu halten, und einer Bürgerbewegung, die eine neue politische Kultur will, die einen Aufbruch gewagt hat in wirklich eine neue Gesellschaft, wo man wirklich Stellung beziehen muss.

Meurer: Müssen Sie einräumen, Herr Erler, dass die Europäische Union eigentlich relativ spät handelt, um nicht schon zu sagen fast zu spät?

Erler: Das sehe ich nicht, denn wann sollte man handeln. Man musste ja erst mal diesen zweiten Wahlgang abwarten. Viele von uns haben natürlich gehofft, dass nach den schon erkennbaren Fälschungen beim ersten Mal, die dann aber nicht mal gereicht haben, um den Oppositionskandidaten Juschtschenko abzufangen, der nach dem ersten Wahlgang leicht vorne lag, etwas passiert. Nachdem dann auch noch mehrere Gruppen, unter anderem die Sozialisten, gesagt haben, sie würden jetzt Juschtschenko unterstützen und immer mehr Leute auf seine Seite übergegangen sind und sogar etwas Unglaubliches passiert ist. 330 Journalisten haben praktisch gekündigt und haben gesagt, sie würden jetzt für diese staatlich kontrollierte Strukturen nicht mehr arbeiten. Sie stellen sich auf die Seite dessen, der kaum Chancen hat, in den Medien vorzukommen. Da dachte man, Juschtschenko muss gewinnen. Insofern brauchte man da nicht viel zu tun.

Meurer: Nur so zurückhaltend wie die EU - Entschuldigung Herr Erler - war zum Beispiel Wladimir Putin, der russische Präsident, nicht. Der ist ja gleich zweimal in Kiew oder in der Ukraine aufgetaucht, um sich eindeutig auf die Seite der Konservativen zu stellen.

Erler: Ja, das ist richtig, aber ich bin ein bisschen stolz darauf, dass die EU das nicht gemacht hat, denn das war ja nun eine so massive Beeinflussung, dass man sagen kann, das sollte man nicht unbedingt nachmachen. Dann ist auch noch die große Frage, ob es denn wirklich genutzt hat, denn sonst hätte man vielleicht nicht so viel fälschen müssen. Es ist ja nun so eindeutig, was da vorgegangen ist und wie massiv hier möglicherweise im Bereich von Millionen von Stimmen gefälscht wurde. Das war ja immer noch nötig, obwohl Putin dort gewesen ist

Meurer: Nun kommt Wladimir Putin morgen nach Den Haag zum EU-Russland-Rat. Ist es an der Zeit, mit dem russischen Präsidenten Klartext zu reden, dass es so nicht geht?

Erler: Zunächst einmal muss man feststellen, dass sich hier in den letzten Stunden kann man beinahe sagen doch etwas geändert hat. Zunächst mal hat Putin seinem Kandidaten Janukowitsch bereits für ein überzeugendes Wahlergebnis gratuliert. Hinterher hat der russische Präsident das relativiert und gesagt, es sei ja eigentlich noch zu früh, denn es gebe noch kein amtliches Endergebnis und insofern könne man hier noch gar nicht eine endgültige Beglückwünschung machen. Das heißt ich habe den Eindruck, dass auch die russische Politik erkennt, welche dramatische Situation jetzt hier in der Ukraine entstanden ist und dass man deswegen im Augenblick versucht, etwas mehr Zurückhaltung zu üben.

Meurer: Nimmt auch die Bundesregierung nicht doch zu viel Rücksicht darauf, dass man sagt, die Ukraine gehört zum Einflussbereich Russlands, wir lassen Putin gewähren?

Erler: Der deutsche Außenminister hat gestern klipp und klar und ohne Umschweife gefordert, dass eine Neuauszählung der Stimmen und eine Überprüfung der Wahlzettel stattfindet. Ich habe gestern mit anderen Kollegen eine Entschließung für die Bundestagssitzung heute vorbereitet, die, wenn ich das richtig sehe, mit sehr großer Einmütigkeit von allen Fraktionen unterstützt wird. Ich gehe davon aus, dass heute das Thema Ukraine in der Aussprache über die Außenpolitik im Vordergrund stehen wird und dass wir dann diese Entschließung verabschieden werden. Also ich sehe eigentlich nicht, dass man Deutschland irgendwie sagen könnte, dass hier nichts gemacht worden ist. Es gibt starke Erklärungen von Kollegen, auch vom Bundestag, die zum Teil direkt Einfluss genommen haben auf das Geschehen. Mehrere von diesen Erklärungen sind auf Internet-Seiten ukrainischer Politiker gestellt worden und sind zum Teil sogar bei großen Versammlungen verlesen worden. Das spricht ja nicht dafür, dass dieses keine Beachtung findet.

Meurer: Sie loben den Außenminister. Was sagen Sie aber zum Kanzler? War das ein Fehler, ausgerechnet am Tag nach der Ukraine-Wahl den russischen Präsidenten als einen lupenreinen Demokraten zu bezeichnen?

Erler: Das war ja in einer Sendung, was Sie da ansprechen, wo er darüber gefragt wurde, wie er zu Putin steht, und ich habe nicht erwartet, dass er, der ja hier ein sehr enges Verhältnis zu Putin hat, etwa in so einer Sendung sich von dem russischen Präsidenten distanzieren würde. Aber ich persönlich weiß, dass der deutsche Bundeskanzler nicht anders über die Situation in der Ukraine denkt als der Außenminister, und ich gehe davon aus, dass wir dazu heute auch bei der Rede vom Bundeskanzler, die ja um neun Uhr beginnt, auch etwas hören werden.

Meurer: Wie viel Einfluss gestehen Sie Moskau auf die Ukraine zu?

Erler: Es ist völlig klar, dass es hier enge Beziehungen gibt. Wir haben alleine möglicherweise bis zu fünf Millionen Ukrainer, die praktisch in der russischen Föderation arbeiten. In der Ost-Ukraine bestehen traditionell sehr starke Einflüsse der russischen Kultur und auch der russischen Wirtschaft. Das ist sehr eng verflochten. Daraus ergibt sich natürlich eine sehr enge Nachbarschaft. Aber eigentlich müsste Russland vor allen Dingen auch an einer überzeugenden Wahl und auch an einer stabilen Entwicklung in der Ukraine interessiert sein. Deswegen war für mich auch auffällig, dass sich zwischen den beiden Wahlgängen andeutet, als Moskau sich so sehr stark für Janukowitsch, für den eigenen Kandidaten machte, der sehr erfahrene russische Botschafter in Kiew Tschernomyrdin - er war früher mal Ministerpräsident in Russland - schon mal vorsichtshalber erklärt hat, dass man selbstverständlich mit jedem gewählten, auch mit Juschtschenko, gedeihliche Beziehungen wünsche und auch zusammenarbeiten könne, dass ein Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass man in jedem Fall mit diesem Nachbarn leben muss und dass man eigentlich auch hier egal wer gewählt wird zusammenarbeiten muss, dass dieser Gedanke doch immerhin noch eine Chance in Russland hat.

Meurer: Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Gernot Erler im Deutschlandfunk. Herr Erler, besten Dank und auf Wiederhören!

Erler: Ja, danke Ihnen auch!