Presseerklärung vom 19. März 2004

Nach dem Krieg ist weiter Krieg. Eine Bilanz des Irak-Krieges ein Jahr danach von Gernot Erler

Zum Jahrestag des Beginns des Irak-Krieges erklärt der Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler, MdB:

Die Zwischenbilanz des am 20. März 2003 begonnenen Irak-Krieges lässt sich in den folgenden sechs Punkten zusammenfassen:

Legitimation:
Es gibt sie heute weniger als vor einem Jahr. Die angeblich sicheren Erkenntnisse über Saddams Atomwaffen haben sich in Luft aufgelöst. Immer mehr am Irak-Krieg beteiligte Staaten fühlen sich getäuscht oder gar betrogen.

Bush-Doktrin:
Sie liegt am Boden. Der Anspruch Amerikas, in "Schurkenstaaten", die sich westlichen Interessen verweigern und sich gefährliche Waffen beschaffen wollen, notfalls mit militärischen Mitteln einen Regimewechsel herbeiführen zu dürfen, zerschellt an den real existierenden Erfahrungen mit dieser Doktrin im Irak. Dieses Scheitern öffnet Raum für andere, etwa von Europa zu konzipierende Konfliktlösungsstrategien.

Rolle VN:
Bushs Irak-Krieg-Entscheidung schob die Vereinten Nationen brutal auf die Seite. Ein Jahr danach wächst das Drängen auf eine neue Rolle der VN, auch im Irak. Heute wissen wir: Die Arbeit von Blix und El Baradei ist nicht gescheitert. Die Inspektoren von UNSCOM und UNMOVIC hatten Saddams Programme tatsächlich unter Kontrolle - auf dem Holzweg waren CIA und britischer Geheimdienst. Das Mittel Waffeninspektoren der Vereinten Nationen ist nicht stumpf, es bietet sich weiter an für die Kontrolle in Problemstaaten.

Die Lage im Irak:
Nach dem Krieg ist weiter Krieg. Die Schreckensherrschaft von Saddam ist vorbei, aber nicht der Schrecken. Er kommt jetzt aus täglichen Attentaten, aus den ungelösten ethnischen und religiösen Konflikten und der Mühsal des "Nation Building". Eine Erfahrung von Bosnien-Herzegowina, über Kosovo bis Afghanistan setzt sich fort: Militärische Interventionen zur Veränderung von Gesellschaften führen zu langfristigen Verpflichtungen, sie binden enorme Kräfte und sie produzieren astronomische Kosten. Diese Erfahrungen stützen die Grenzsetzung des Völkerrechts, das eine militärische Intervention nur zur Abwehr einer anders nicht abzuwehrenden unmittelbaren Gefahr zulässt. Der Fall Irak ist auf dem Weg, die materiell und politisch kostspieligste Verletzung dieser Regel zu werden, die es je gab.

Kampf gegen den global agierenden Terrorismus:
Der Irak-Krieg hat nicht den Terrorismus, sondern die weltweite politische Koalition gegen die Terrornetzwerke geschwächt. Ein Jahr nach Kriegsbeginn ist die Spaltung in Befürworter und Gegner der Intervention noch immer nicht endgültig überwunden. Das Legitimationsdefizit beschäftigt die Gesellschaften Amerikas und der "Coalition of the Willing". Im Irak, vor dem Krieg ein Null-Aktionsfeld für Al Qaida, finden die Terror-Aktivisten heute verwundbare Ziele und neue Rekrutierungschancen. Die dort gebundenen Kräfte und Mittel fehlen anderswo für eine wirksame weltweite Antiterrorstrategie.

Die deutsche Haltung:
Sie wurde bestätigt. Das Nein zum Irak-Krieg folgte Prinzipien, alle Erfahrungen des letzten Jahres haben diese bestätigt. Deutschland stellt sich der internationalen Verantwortung, vor allem in Afghanistan, wo es tatsächlich von Anfang an um den Kampf gegen den Terrorismus ging. Im Rahmen des mühseligen Nation-Building-Prozesses im Irak, der noch ganz am Anfang steht, bestehen Deutschlands Beiträge im nichtmilitärischen Bereich, die ebenso Anerkennung finden wie das umfangreiche Afghanistan-Engagement. Aus Deutschland kommen neue Impulse für ein politisches Gesamtkonzept für den Frieden im Großraum Nahost. Ein Jahr nach dem Beginn des Irak-Krieges gibt es keinen einzigen Grund, an dieser politischen Linie etwas zu ändern.


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Zur politischen Entwicklung seit dem 20.3.2003 im Einzelnen:


Vor genau einem Jahr begann der Irak-Krieg. Monatelang hatte die Weltgemeinschaft darum gerungen, den Einsatz militärischer Gewalt im Irak doch noch zu verhindern. Am Ende siegten die Waffen. Der Frieden war damit jedoch nicht gewonnen.

Es waren im Wesentlichen drei Argumente, mit denen die USA die Notwendigkeit des Krieges versuchten, zu legitimieren, nachdem alle Versuche, ein völkerrechtlich verbindliches VN-Mandat zu erhalten, fehlgeschlagen waren:

1. Der Irak befände sich im Besitz von Massenvernichtungswaffen und sei zu einer internationalen Kooperation, die eine überprüfbare Abrüstung dieser Waffen ermögliche, nicht wirklich bereit. Damit stelle das Land eine unmittelbare Bedrohung für die gesamte Region und darüber hinaus dar, die ein entschlossenes Handeln erforderlich mache.

2. Das Regime Saddam Husseins sei so menschenverachtend und verabscheuungswürdig, dass bereits der „regime change" ein ausreichender Grund für einen Krieg darstelle, auch wenn dies nicht explizit durch das Völkerrecht gedeckt sei. Eine Beseitigung des Saddam-Regimes und die Einführung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werde eine Sogwirkung auf die Staaten in der Region des Nahen und Mittleren Ostens haben und damit einen demokratischen Domino-Effekt auslösen, der die regionale Sicherheit (auch im Hinblick auf Israel) spürbar verbessern werde.

3. Der Sturz Saddam Husseins sei zugleich ein wertvoller Beitrag im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Obwohl es zu keinem Zeitpunkt einen ernstzunehmenden Hinweis für eine Kooperation des Bagdader Diktators mit dem Terrornetzwerk Al Qaida gab, wurde der Weltöffentlichkeit genau dieser Eindruck vermittelt.


Zunächst schien die Rechnung aufzugehen. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten setzte sich die gewaltige militär-technologische Überlegenheit der USA in wenigen Wochen durch. Die Durchhalteparolen der irakischen Propagandamaschinerie verstummten. Saddam Hussein und sein Regime haben sich quasi über Nacht in Luft aufgelöst. Das alte Regime hatte gegen die gigantische Übermacht der Vereinigten Staaten zu keinem Zeitpunkt eine wirkliche Chance.

Die Menschen im Irak feierten ihre Befreiung von einem brutalen Diktator und die Welt atmete auf, dass ein langanhaltender, zermürbender Krieg vermieden worden war. Die Strategie der USA schien aufzugehen.

Heute wissen wir, dass diese Theorie buchstäblich auf Sand gebaut war. Bereits nach wenigen Wochen war die Zahl der US-Soldaten, die nach offizieller Beendigung der Kampfhandlungen am 1. Mai 2003 getötet wurden, höher, als die Zahl derjenigen Soldaten, die im Gefecht während der rund fünfwöchigen Kampfhandlungen ihr Leben ließen.

Von Normalität und Stabilität ist das Land leider entfernter denn je. Seit dem Beginn der Besatzungszeit erschüttern nahezu täglich immer neue Anschläge das tägliche Leben im Irak. Richteten sich die Angriffe anfangs in erster Linie gegen die amerikanischen Besatzer, so müssen wir heute feststellen, dass sich die Attentate immer stärker gegen Iraker richten, die mit den Besatzungsmächten zusammenarbeiten.

Erstes prominentes Opfer war der VN-Gesandte Sergio Vieira de Mello, als im August 2003 das VN-Hauptquartier in Bagdad in die Luft gesprengt wurde. Vor wenigen Tagen erst war das erste deutsche Opfer zu beklagen - ein Ingenieur, der dem Land beim Wiederaufbau behilflich sein wollte.

Aber auch Iraker selbst leiden unter dem täglichen Terror. Bilder von Anschlägen auf Pilgerprozessionen mit Dutzenden von Toten sind für uns schon fast zur traurigen Gewohnheit geworden. Die Urheber dieser Verbrechen handeln nach dem Kalkül einer größtmöglichen Destabilisierung des Irak mit dem Ziel der völligen Zermürbung aller am Wiederaufbau interessierten Kräfte.

Der Irak hat sich zum Tummelplatz international operierender Terrornetzwerke entwickelt. Die Handlanger des Schreckens können nahezu ungestört operieren. Die Unsicherheit wächst, anstatt abzunehmen. Jüngste Umfragen unter der irakischen Bevölkerung belegen, dass das Vertrauen in ein demokratisches System rapide zurückgegangen ist. Die Mehrheit der Iraker wünscht sich heute wieder einen „starken Führer", der ihnen zwar keine Freiheit, aber wenigstens Sicherheit garantieren könnte.

Die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung, die längst nicht nur die Anhänger des alten Regimes erfasst hat, in Verbindung mit dem Machtanspruch der schiitischen Bevölkerungsmehrheit, ist ein Pulverfass, das sich jederzeit in einer gewaltigen Explosion entladen kann. Auch die Verabschiedung der irakischen Übergangsverfassung kann über die Instabilität im Kräftedreieck Schiiten - Sunniten - Kurden nicht hinweg täuschen. Schon ein kleiner Funke kann die Spannungen zwischen diesen drei Bevölkerungsgruppen entfachen und zu einem Flächenbrand werden lassen.

Sollte es wirklich Absicht der USA gewesen sein, dem Nahen und Mittleren Osten auf diesem Wege zur Demokratie zu verhelfen, muss man feststellen, dass sie der Demokratie damit einen Bärendienst erwiesen haben. Als Leuchtturmprojekt für Demokratie und Wohlstand im Nahen und Mittleren Osten scheidet der Irak jedenfalls aus.

Doch auch auf den beiden anderen Gebieten ist die Bilanz ernüchternd:

• Bis zum heutigen Tage wurde im Irak keine einzige Massenvernichtungswaffe gefunden. Selbst amerikanische Experten gehen mittlerweile davon aus, dass auch keine mehr gefunden werden. Die angeblichen Beweise, die die Nachrichtendienste der USA und Großbritanniens der Weltöffentlichkeit im Vorfeld des Irak-Krieges präsentierten, haben sich längst als Manipulationen herausgestellt.

• Als Beitrag im Kampf gegen den internationalen Terrorismus war der Irak-Krieg komplett verfehlt. Die Anschläge von Istanbul und Madrid haben auf dramatische Weise die Handlungsfähigkeit des internationalen Terrorismus unter Beweis gestellt. Der Irak-Krieg hat den internationalen Terrorismus nicht geschwächt, sondern ihm neuen Zulauf verschafft.

Dies ist die traurige und ernüchternde Bilanz, die wir ein Jahr nach Beginn des Krieges ziehen müssen.


Strategien gegen die Resignation

Es ist und war richtig, dass die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder dafür gesorgt hat, dass Deutschland sich nicht an diesem Krieg beteiligt hat. Dennoch wäre es verfehlt, so zu tun, als ginge einen die weitere Entwicklung im Irak nichts an.

Doch genauso, wie die Staaten, die diesen Krieg geführt haben, hat auch Deutschland ein Interesse an einer Stabilisierung des Iraks. Auch wenn die Aussichten darauf im Moment sehr gering sind, dürfen wir nicht tatenlos zusehen und abwarten, was passiert.

Vorrangiges Ziel ist die baldmöglichste Übertragung der Souveränität auf eine legitimierte Übergangsregierung. Ein neues VN-Mandat muss diesen Prozess völkerrechtlich absichern. Nur dann kann es gelingen, die Mehrheit der Iraker dafür zu gewinnen, ihre Kraft in den Wiederaufbau und die Stabilisierung zu investieren und damit den Terroristen auf Dauer das Leben schwer zu machen. Doch geben wir uns keinen Illusionen hin: Dies wird noch ein langer und schmerzhafter Prozess sein, in dem noch viele unschuldige Menschen ihr Leben verlieren werden.

Deutschland wird sich an der Stabilisierung des Irak beteiligen. Bereits heute bilden wir gemeinsam mit Japan irakische Polizisten aus, die im Land dringend benötigt werden.

Ein auf Dauer instabiler und den Händen mordender Terrorgruppen ausgelieferter Irak hätte unweigerlich eine destabilisierende Wirkung auf Gesamteuropa. Unser vordringliches Ziel muss es daher sein, gemeinsam mit unseren Partnern alles zu unternehmen, um diese Negativentwicklung zu stoppen.

Es gibt vielfältige Möglichkeiten, sich an der Stabilisierung des Irak zu beteiligen. Die Bundeswehr ist bereits an vielen Orten der Welt im Einsatz. Ihr Einsatz in Afghanistan bindet wertvolle Ressourcen. Wenn wir unsere dortigen Verpflichtungen ernst nehmen, müssen wir dafür Sorge tragen, dass die Bundeswehr nicht Opfer eines Überdehnungssyndroms wird.

Deshalb bleibt es dabei: Eigene Truppen werden wir nicht in den Irak entsenden. Unsere Fähigkeiten können wir auf anderen Gebieten anbieten:

So hat die Bundesregierung 2003 im Bereich der humanitären Nothilfe für den Irak über 11 Mio. Euro (dazu gehörte u.a. die Notinstandsetzung der Trinkwasserversorgung außerhalb Bagdads durch das THW), im Rahmen internationaler Hilfsorganisationen wie IKRK, UNHCR und WEP 18,5 Mio. Euro und im Rahmen der humanitären Hilfe der EU noch einmal 23 Mio. Euro zur Verfügung gestellt. Der deutsche Anteil an EU-Wiederaufbauhilfe für 2003/04 beträgt insgesamt ca. 45 Mio. Euro. Zusätzlich werden noch einmal Mittel in Höhe von 44 Mio. Euro über die Weltbank zur Verfügung gestellt, so dass Deutschland für 2003/04 mit einem Gesamtbeitrag in Höhe von 145 Mio. Euro an humanitärer und Wiederaufbauhilfe für den Irak beteiligt ist.