SPD-Außenpolitikexperte Erler stellt Zeitplan für Machtübergabe im Irak in Frage
Alexander Krahe: Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation im Irak?
Gernot Erler: Das ist das Schlimmste, was seit dem offiziellen Ende des Krieges überhaupt denkbar war. Wir haben jetzt seit 1. April eine verlustreiche Situation auf beiden Seiten mit etwa 700 toten Irakern und 70 Verlusten der Amerikaner und ihrer Verbündeten. Das ist der blutigste Monat in diesem ganzen Krieg. Das stellt natürlich die amerikanische Politik vor fast unlösbare Probleme, die sich ja eigentlich schon auf dem Weg sah, die Kontrolle des Landes an irakische Behörden und an irakische Kräfte abzugeben, um sich dann auch weiter als Besatzungstruppen zurückziehen zu können. Davon kann natürlich überhaupt keine Rede sein.
Alexander Krahe: Bleibt denn das Ziel der Machtübergabe an die Iraker bis Ende Juni bestehen?
Gernot Erler: In Amerika gibt es darüber eine Diskussion. Da mehren sich die Stimmen, die sagen, das sei ja völlig unrealistisch. Man müsste wahrscheinlich jetzt einen Plan B machen, um überhaupt einen anderen Zeitplan einzurichten. Denn wie soll man in einer solchen Situation, die man ja nur als Chaos bezeichnen kann, wo ganz offensichtlich auch viele Verbindungswege gestört sind, wo die Aufständischen nicht nur bestimmte Stadtteile oder Städte, sondern auch Verkehrsverbindungen kontrollieren. In so einer Situation kann man sich schlecht vorstellen, dass man dort die staatliche Autorität an irgendeine Gruppe - und es steht noch gar nicht einmal fest, an welche - übergeben könnte.
Alexander Krahe: Gibt es denn in dieser Situation und angesichts dieser Härte und Gewalt eine Chance die internationale Gemeinschaft, die Vereinten Nationen wieder ins Spiel zu bringen?
Gernot Erler: Viele sagen, dass das die einzige Möglichkeit sei. Auf der anderen Seite muss man jetzt natürlich beobachten, was passiert. Sie haben eben berichtet: Es werden ständig neue Geiseln genommen. Übrigens sind Russen und Chinesen dabei. Das sind zwei der Länder, die den Krieg strikt abgelehnt haben und sich nicht beteiligt haben im Irak. Das bedeutet ja, es geht gegen alle Ausländer, egal aus welchen Ländern sie kommen. Das ist jetzt natürlich auch schwer zu sagen, ob zum Beispiel die UNO eine Chance hätte, jetzt hier einen Übergang besser zu regeln als die Amerikaner, die ja auch schon 22 Tote zu beklagen hat, die im letzten Jahr durch einen Angriff dort verloren gegangen sind. Also es ist eine Situation, wo man eigentlich im ersten Moment jetzt sagen muss: Zunächst einmal muss die Sicherheit wieder halbwegs hergestellt werden, der Zustand sozusagen vor dem April, bevor man überhaupt über eine politische Lösung konstruktiver Art nachdenken kann.
Alexander Krahe: Heißt das: Es ist richtig, wenn jetzt amerikanische Soldaten mit aller Macht gegen den Geistlichen und Schiitenführer al Sadr vorgehen?
Gernot Erler: Auch da zeigt sich, wie schwierig das ist. Jetzt wird gedroht, er wird gefangen genommen oder er wird getötet. Aber wie sind denn die Unruhen entstanden? Durch die Festnahme eines engen Mitarbeiters von al Sadr und durch das Verbot einer Zeitung, also vergleichsweise harmlose Vorgänge. Was würde wohl passieren, wenn al Sadr etwas zustößt, wenn er getötet wird? Er wäre ein Märtyrer. Man kann sich vorstellen, dass das diese Aufstände nicht etwa beenden, sondern wahrscheinlich erst recht aufstacheln würde. Die Amerikaner sind hier also wirklich in einer ganz schwierigen Situation. Ich würde sagen, in einer Fallensituation. Das, was ich Tschetschenisierung nennen würde, also diese Arbeit mit Geiseln, ungeachtet des Herkunftslandes, macht natürlich jede Verhandlung sehr schwierig, macht jetzt natürlich auch jede Arbeit mit der neuen Übergangsregierung sehr schwierig, weil immer die Frage ist, wer soll eigentlich Verhandlungen führen. Kann man das mit oder ohne diese irakischen Autoritäten machen oder nicht. Auch hier ist eine große Ratlosigkeit im Moment.
Alexander Krahe: Die großen Fragen wird die Bundesregierung hier in Berlin nicht beantworten müssen. Da ist Washington gefragt. Aber es geht natürlich noch um die deutsche Botschaft in Bagdad. Zwei BGS-Mitarbeiter sind getötet worden. Wie wird sich die Bundesregierung jetzt verhalten?
Gernot Erler: Die Bundesregierung wird sich jetzt vor allen Dingen erst einmal darauf konzentrieren, sicherlich mit Hilfe der Besatzungstruppen, aber auch der irakischen Autoritäten vor Ort, zweifelsfrei festzustellen: Was ist das Schicksal von den Beiden gewesen? Erst dann kann man Schlussfolgerungen ziehen. Wenn man auch weiß, ob es sich hier um einen gezielten Anschlag oder eben eher um eine unglückliche Verkettung von Umständen handelte. Dann wird sie auch erst eine Entscheidung treffen - das ist auch sinnvoll - über die Zukunft der Botschaft. Man muss ja wissen, dass es überhaupt nur noch eine Minibesetzung im Lande ist. Es gibt nur vier entsandte Kräfte, die dort tätig sind. Die Bundesregierung wird - da bin ich ziemlich sicher - keinen Alleingang machen, sondern wird sich dabei mit den anderen Ländern, die noch in Bagdad vertreten sind, abstimmen, ob jetzt die Gefahr so eingeschätzt werden muss, auch in Bagdad selbst, dass es nicht mehr verantwortbar ist, dort eine Botschaft zu haben. Denn die ist ja wichtig, weil sich immer noch ca. 60 Deutsche im Irak befinden.
Alexander Krahe: Also, nicht ausgeschlossen, dass die Botschaft in Bagdad geschlossen wird?
Gernot Erler: Ich würde es nicht ausschließen, aber ich würde es auch nicht als unmittelbar bevorstehend bezeichnen, weil ich nicht glaube, dass die Bundesregierung da einen Alleingang macht. Sie wird sich mit den anderen europäischen und anderen verbündeten Staaten dort absprechen und klären: Kann man es noch vertreten, eine diplomatische Vertretung in Bagdad zu unterhalten? Man muss ja sehen, dass auch dieser Überfall außerhalb von Bagdad passiert ist. Also: Das alles muss man sich erst einmal genau angucken, was da vorgegangen ist.