Erler unterstützt offene Kritik von Regierungsmitgliedern an den USA. Interview mit Gernot Erler im Deutschlandradio, 12. Mai 2004

Erler unterstützt offene Kritik von Regierungsmitgliedern an den USA

Silvia Engels: Am Telefon ist nun Gernot Erler, er ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag und zuständig für außenpolitische Fragen. Guten Morgen.

Erler: Guten Morgen, Frau Engels.

Engels: Außenminister Fischer hat Kritik geübt mit Blick auf die Foltervorwürfe an US-Truppen. War das Ihrer Ansicht nach deutlich genug?

Erler: Er hatte eine sehr große Chance im direkten Gespräch, den amerikanischen Verantwortlichen einiges klar zu machen und ich habe den Eindruck, er hat diese Chance wirklich genutzt. Es geht ja darum, den Amerikanern deutlich zu machen, was eigentlich die Dimension von Abu Ghraib ist. Ich glaube, dass eine westliche Welt, die über Begriffe wie Guantánamo und Abu Ghraib international wahrgenommen wird, in Zukunft gar kein Recht mehr hat, Fragen an andere Nationen, andere Gesellschaften zu stellen, sondern eigentlich nur noch selber Fragen beantworten muss. Das ist die eigentliche Dimension. Wenn Fischer hier zum Beispiel die Frage der moralischen Führungsfähigkeit der Vereinigten Staaten angesprochen hat, dann hat er offenbar genau in diese Richtung hin argumentiert.

Engels: Franz Müntefering, Ihr Partei- und Fraktionschef nahm in dieser Hinsicht gestern kein Blatt vor den Mund, er verlangt offen den Rücktritt von US-Verteidigungsminister Rumsfeld. Und Sie?

Erler: Ich finde das völlig richtig, wir müssen genau sagen, was wir mit restloser Aufklärung meinen, denn schon werden wir konfrontiert mit Versuchen, das so zu verstehen, dass einzelne Verantwortliche am Ende der Befehlskette hier verantwortlich gemacht werden. Das kann sich ein Land wie Amerika, das dem Internationalen Strafgerichtshof bewusst nicht beigetreten ist, nicht leisten, gerade hier wird die ganze Welt jetzt auf Washington gucken, was passiert. Es ist völlig klar, hier muss geklärt werden, ist das eine System, diese Misshandlungen, diese Demütigung von Menschen, um Ergebnisse von Verhören zu erreichen? Wenn es das ist, dann muss das System abgeschafft werden und in jedem Fall muss die ganze Befehlskette zur Verantwortung gezogen werden, alles andere wäre nicht wirksam, würde diesen Nachteil, den ich eben beschrieben habe für die ganze westliche Welt nicht beseitigen. Und insofern ist es eben auch nicht nur ein amerikanisches Problem, sondern im Grunde genommen, da sich die Amerikaner im Irak auf westliche Werte berufen, ist die ganze westliche Welt so in einer Art unfreiwillige Mithaftung für das, was vor Ort passiert. Etwas besseres hätte sich Bin Laden eigentlich nicht vorstellen können, wenn er den Kampf der Kulturen will. Insofern muss jetzt auch in der Art der Aufarbeitung deutlich werden, dass es hier nicht nur um Amerika geht sondern im Grunde genommen um den Status der ganzen westlichen Welt in der internationalen Politik.

Engels: Dieser Fall der Misshandlungen soll ja nun aufgeklärt werden, das ist auch das US-Bestreben selbst, aber wie sollte sich die deutsche Außenpolitik künftig zu dem Fall Guantánamo stellen?

Erler: Ich denke, das hat einen ganz engen Zusammenhang. Wir hören doch auch, dass in Guantánamo ebenfalls mit Schlafentzug und mit anderen Zermürbungstechniken gearbeitet worden ist, die international in die Kategorie Folter eingereiht werden. Ich würde eigentlich gegenüber Amerika die Erwartung äußern, dass eben Guantánamo und Abu Ghraib gelöscht werden als Größenordnungen. Das heißt, es muss jetzt ganz deutlich werden, dass Amerika bei Menschenrechten und bei der Menschenwürde keinen Unterschied, auch keinen ethnischen Unterschied macht, sondern dass jedes Opfer des Krieges, dass jeder Mensch, der hier beteiligt ist, gleich behandelt wird, eine gleiche Würde hat und auch eine gleiche Wertigkeit. Das bedeutet für mich zum Beispiel, dass jedes Opfer eigentlich so entschädigt werden müsste, wie in einem vergleichbaren Fall ein amerikanisches Opfer entschädigt werden würde und nicht etwa mit einer Pauschalsumme von 1500 Dollar pro Opfer, was ja die Betroffenen im Augenblick, ich finde durchaus nachvollziehbar, zurückweisen.

Engels: Die Kritik von Joschka Fischer ist das eine, Handlungen der deutschen Politik sind das andere. Nun ist ja zu beobachten, dass die deutsch-amerikanischen Beziehungen wieder etwas enger geworden sind, Minister Schily und Ministerin Zypries sind derzeit auch in den USA und verhandeln dort weiter. Sollte man denn hier die Zusammenarbeit möglicherweise, auch mit Blick auf diese Vorwürfe, zurückfahren?

Erler: Ich glaube ganz im Gegenteil, es muss jetzt jede Chance genutzt werden und das ist ja auch gerade die Chance des Besuches von Joschka Fischer in Amerika, um genau die Punkte, die ich gesagt habe, im direkten Gespräch der amerikanischen Seite deutlich zu machen. Gerade wenn das stimmt, dass wir in einer unfreiwilligen Mithaftung sind, müssen wir ein Interesse daran haben, wie Amerika jetzt mit diesem Problem umgeht, weil wir den Schaden mittragen, das ist nicht mehr nur eine innere Angelegenheit der Vereinigten Staaten, das ist eine Angelegenheit der ganzen westlichen Staatenwelt und insofern muss man jede Begegnung nutzen, ja sogar möglichst viele Begegnungen schaffen, um die Dimension, das Ausmaß dieser Katastrophe deutlich zu machen.

Engels: Unfreiwillige Mithaftung der westlichen Welt ist das Stichwort, die Vereinigten Staaten streben ja an, die NATO künftig im Irak stärker einzubinden. Ist dieses Unternehmen damit gescheitert?

Erler: Ich glaube, dass wir uns noch nicht klarmachen, welchen Verdrängungseffekt jetzt dieses Thema Misshandlungen und Folter insgesamt auf den gesamten politischen Prozess im Kontext mit dem Irak haben wird. Ich glaube, dass es im Augenblick wenig Sinn macht, darüber nachzudenken, welche Rolle vielleicht die NATO, die UNO und so weiter haben wird. Im Vordergrund steht jetzt, hat Amerika die Selbstreinigungskraft, - und übrigens hat Amerika in der eigenen Geschichte schon oft eine solche Kraft bewiesen -, um mit diesem Schock fertig zu werden? Das steht an der ersten Stelle der Tagesordnung und alles andere muss dahinter zurücktreten.

Engels: Kommen wir noch mal auf das Thema Misshandlung von Gefangenen grundsätzlich zurück. Kontrolliert das deutsche Parlament eigentlich regelmäßig das Verhalten von Bundeswehrsoldaten im Ausland, beispielsweise in Afghanistan oder auf dem Balkan?

Erler: Das deutsche Parlament hat eine allgemeine Kontrollfunktion dabei und hat natürlich immer das Recht und nimmt auch von diesem Recht durchaus Gebrauch, Fragen zu stellen, kritische Fragen zu stellen, wenn irgendwelche Punkte dazu Anlass geben. Aber wir haben eine wichtige Tradition hier in Deutschland, das ist das Prinzip der inneren Führung, das ist das Prinzip natürlich der Verantwortlichkeit und die Verpflichtung gegenüber den internationalen Regeln, die zur inneren Führung auch gehören. Insofern gibt es hier doch ein sehr strenges Kontrollsystem, das jederzeit auch parlamentarisch überprüft werden kann, das ist bestimmt keine Garantie, aber eines muss man auch sagen, wäre völlig klar: Sollte auch nur ein Bruchteil, auch nur eine Andeutung eines solchen Vorkommnisses, wie wir es jetzt nicht in Einzelfällen sondern offensichtlich systemisch beobachten im Irak in Deutschland vorkommen, wäre völlig klar, dass es hier eine komplette politische Verantwortungsübernahme geben müsste, das wäre die erste Forderung, die aus dem Parlament käme und es würde selbstverständlich zu politischen und personellen Konsequenzen kommen.

Engels: Noch kurz zu einem anderen Thema, das aber indirekt zumindest vernetzt ist. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung meldet heute, die Bundesregierung plane noch in dieser Legislaturperiode massiv auf einen ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat zu dringen. Ist das realistisch?

Erler: Das ist zumindest nicht neu, weil das in der Tat die Absicht der Bundesregierung ist, sich hier zu bewerben um einen solchen ständigen Sitz. Dahinter steckt natürlich auch die gewachsenen Rolle in der internationalen Verantwortung, die Deutschland wahrnimmt, auch unter anderem als das Land, was bei internationalen Friedenseinsätzen an erster Stelle mit der Stationierung auch von militärischen Kräften, aber auch durch enorme Anstrengungen im zivilen Bereich, wenn ich an Afghanistan und an den Balkan denke, hier dasteht. Das ist der Hintergrund, hier zu sagen, wer mehr Verantwortung übernimmt, der sollte auch mehr Rechte in der internationalen Welt der Institutionen, das heißt in den Vereinten Nationen bekommen.

Engels: Gernot Erler, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag und dort zuständig vor allem für außenpolitische Fragen. Ich bedanke mich für das Gespräch.

Erler: Bitte schön, Frau Engels.