Presseerklärung vom 8. Juni 2004

Die neue Irak-Resolution der UN und ihre globale Bedeutung

Zu der heute anstehenden Beschlussfassung des UN-Sicherheitsrats über eine neue Irak-Resolution erklärt der Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler:

Die neue Irak-Resolution des Sicherheitsrats markiert einen politischen Wendepunkt, dessen Bedeutung weit über den Irak hinausgeht. Die sogenannte "Bush-Doktrin" muss offensichtlich bereits nach ihrer ersten Anwendung modifiziert werden. Die Resolution ist eine Bestätigung der Positionen der Irak-Kriegs-Gegner Deutschland, Frankreich und Russland, die von Anfang an eine stärkere Einbeziehung der Vereinten Nationen gefordert haben.

Wenn jetzt die Vereinten Nationen die Organisation der weiteren Stationen zu einer irakischen Verfassung und zu demokratischen Wahlen im Irak übernehmen, dann beendet dies den Alleingang von George W. Bush, die Autorität der Vereinten Nationen zu ignorieren und auf eigene Kappe im Irak einen proamerikanischen Regime-Change durchzusetzen. Mit dem Bremer-Protektorat der "Coalition Provisional Authority" endet die vollständige Kontrolle des politischen Prozesses im Irak durch Washington, vom UN Sonderbevollmächtigten Brahimi wohl bewusst als "Diktatur" bezeichnet. Es beginnt ein offener politischer Transformationsprozess, in den die Vereinten Nationen ihre vielfältigen Erfahrungen einbringen werden. Vieles spricht dafür, dass die neue Interimsregierung Allawi sogar eine bestimmte Portion an Distanz zu Amerika braucht, um Autorität im eigenen Land zu gewinnen.

Wenn jetzt die "Multinational Force" (MNF) an die Stelle der Okkupations-Kräfte der US-geführten "Coalition of the Willing" tritt, dann sind das noch dieselben Soldaten, unter derselben militärischen Führung, aber in einem anderen Auftrag. Ein Veto-Recht der Interimsregierung war nicht durchzusetzen, zumal Allawi es selber nicht einforderte. Insofern bleibt die postulierte neue irakische Souveränität auch nach dem 30.4. faktisch eingeschränkt. Aber genauso klar ist: Die MNF ist nicht mehr Machtrepräsentanz, sondern ein Auftragnehmer auf Zeit mit einer brisanten Mission. Das militärische Mandat hängt de facto von der Zustimmung der irakischen Regierung ab und bezieht jetzt seine Legitimation von den Vereinten Nationen.

Es muss erstaunen, dass Bush zu solchen Zugeständnissen bereit ist. Auch wenn diese weniger Einsichtsprozesse widerspiegeln als die Dimension des amerikanischen Dilemmas im Irak - diese Eingeständnisse schaffen Fakten für die globale Politik. Über kurz oder lang muss die "National Security Strategy", die Bush im September 2002 unterzeichnete und deren Anspruch auf notfalls im Alleingang durchzuführende gewaltsame Regimewechsel ("Preemptive strikes") im Falle Irak eine erste Anwendung fand, umgeschrieben werden. Noch besser wäre, es käme angesichts der jetzigen Erfahrungen zu einem substantiellen europäisch-amerikanischen Dialog über eine gemeinsame politische Gesamtstrategie in der Nachseptemberwelt - Bushs aktuelle Probleme und die Anregungen der Europäer bieten dafür eine nutzbare Ausgangslage.

Im Irak selbst wird diese weltpolitische Dimension der neuen UN-Resolution wenig Aufmerksamkeit finden. Dort wird alles davon abhängen, ob die Übergangsregierung Allawi es tatsächlich schafft, im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin, dem "Governing Council", den Respekt und das Vertrauen der irakischen Gesellschaft zu gewinnen.