Presseerklärung vom 11. Juni 2004

Die Freilassung Leyla Zanas kann nur der Anfang sein

Zu den Fortschritten im türkisch-kurdischen Verhältnis in der Türkei erklärt der Stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Gernot Erler:

Die Freilassung von Leyla Zana und der anderen drei ehemaligen kurdischen Abgeordneten sollte positiv gewürdigt, aber nicht vorschnell überbewertet werden. Diese längst fällige Entscheidung bedeutet ebenso wenig wie die gleichzeitig angeordnete Ausstrahlung von wenigen Minuten Fernsehzeit in kurdischer Sprache, dass der türkische Staat nun seinen Frieden mit der kurdischen Bevölkerung gemacht hat. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, sie zeigt aber, dass die Macht des Winters gebrochen ist.

Beide Entscheidungen zeigen, dass den Worten der türkischen Reformrhetorik nun wirklich auch Taten folgen. Dies ist vollauf zu begrüßen, da daraus vor allem für den Bevölkerungsteil der Kurden eine berechtigte Hoffnung entstehen kann, dass seine kurdische Identität doch endlich anerkannt wird. Dabei ist zu hoffen, dass diese Zugeständnisse nicht nur als Mittel zur Erlangung eines Verhandlungsdatums mit der EU dienen sollen, sondern zeigen, dass bei der politische Elite in der Türkei ein wirkliches Umdenken begonnen hat.

Fakt ist, dass es ohne größten politischen Schaden nun kein zurück mehr gibt und die Forderungen nach weiteren notwendigen Normalisierungsschritten im türkisch-kurdischen Verhältnis nun immer lauter werden. Wenn die Türkei wirklich als europäisches Land anerkannt werden will, können diese Entscheidungen nur ein Anfang sein. Besonderes Lob darf sie dafür nicht erwarten, ist dies doch nur der Einstieg in das, was allgemein als europäisches Verhalten gilt. Wenn Ministerpräsident Erdogan es ernst meint mit seiner Behauptung, dass die Reformen der letzten Monate nicht um der EU willen, sondern aus eigenem Antrieb zum Wohle der Bürger der Türkei erfolgten, muss schnell noch viel mehr an konkreten Verbesserungen kommen.

Noch gehören Folter im Strafvollzug und andere Menschenrechtsverletzungen zur türkischen Normalität, noch sitzen viele, nach europäischen Massstäben ebenso unschuldige, aber weniger prominente Häftlinge als Leyla Zana in den Gefängnissen, noch werden andere als die islamische Religion diskriminiert, noch ist es bei Strafe verboten, den Genozid an den Armeniern zuzugeben, noch leben Hunderttausende vertriebene Kurden im Elend der Millionenstädte, während die meisten ihrer vom Militär zerstörten Dörfer umsonst auf den Wiederaufbau warten. Kurzum: Noch ist die Türkei auf vielen Gebieten weit entfernt von europäischen Standards.

Guter Wille ist anerkennenswert, er allein und die formale Änderung von Gesetzen aber reicht nicht. Verhandlungen mit dem Ziel der Mitgliedschaft in der EU kann es nur geben, wenn die formalen Fortschritte auf breiter Front in die Lebenswirklichkeit der Menschen umgesetzt werden. Ein Anfang ist gemacht. Um volle Glaubwürdigkeit zu erlangen, sind jedoch noch große politische Anstrengungen und viele Brüche althergebrachter Tabus nötig.