Interview von Gernot Erler zu den Schröder-Äußerung zu Tschetschenien, Inforadio des RBB, 1. September 2004

Interview zu den Schröder-Äußerung zu Tschetschenien

SPD-Fraktionsvize Erler äußerte am Mittwoch im Inforadio vom rbb zwar Verständnis für die Erklärung Schröders, sprach aber selbst von einer "Wahlfarce". Schröder habe angesichts der Trauer in Russland über die beiden explodierten Flugzeuge darauf verzichtet, öffentlich Kritik an der russischen Tschetschenien-Politik zu üben.

Erler plädierte dafür, die Missstände in Tschetschenien öffentlich zu benennen. Es gebe einen deutlichen Gegensatz zwischen den Behauptungen Moskaus über eine angebliche Normalisierung in Tschetschenien auf der einen und der jüngsten "Wahlfarce" und der "enormen Steigerung von terroristischen Aktivitäten" auf der anderen Seite. Erler wörtlich: "Diesen Widerspruch muss Putin jetzt erklären." Der russische Präsident sei in die Defensive geraten und müsse darlegen, wie er die Sicherheit der Bürger in Rußland schützen wolle.

Das Interview im Wortlaut:

Michael Castritius: Schröders Absolution im Alleingang gestern (Dienstag), war das Diplomatie?

Gernot Erler: Das war keine Absolution und auch kein Persilschein. Sondern auf eine gezielte Frage von Journalisten hat der Bundeskanzler eben genau diesen Satz, den wir eben gehört haben, gesagt. Er ist also der Frage ausgewichen auf den äußeren Ablauf der Wahlen und hat da gesagt, es hat keine empfindlichen Störungen gegeben. Das stimmt. Das ist auch objektiv richtig. Aber er wollte in der Situation, in der Russland noch über die Opfer von den zwei abgeschossenen und explodierten Flugzeugen trauert, nicht diese Gelegenheit nutzen, um öffentlich Kritik an der russischen Tschetschenienpolitik zu äußern wie das auch Chirac bei dieser Pressekonferenz vermieden hat.

Michael Castritius: Aber kann man das nicht trennen? Ich meine, wenn Angela Merkel vor der Wahl 2006 Auftrittsverbot im TV erhielte, dann könnte man ja nicht mehr von einer normalen Wahl sprechen. In Tschetschenien war das so.

Gernot Erler: Er hat diese Entscheidung getroffen. Er hat es auch getan vor dem Hintergrund, dass beide Regierungschefs - sowohl Chirac als auch Schröder - ein bisschen überraschend doch das Thema Tschetschenien offensiv bei diesem Gespräch mit Putin angesprochen haben. Chirac hat auf der Pressekonferenz auch darüber berichtet, obwohl das vorher gar nicht auf der Tagesordnung stand. Es geht ein bisschen unter in der Berichtslage, dass dabei auch etwas herausgekommen ist. Es hat noch einmal eine Zusage von Putin gegeben, nach einer politischen Lösung des Konflikts zu streben und dabei auch verhandlungsbereit zu sein. Das hat man lange Zeit nicht von Putin gehört. Also, alle Drei haben sich offensichtlich sehr ernsthaft und intensiv auch mit dem Tschetschenienproblem bei diesem Dreier-Treffen beschäftigt.

Michael Castritius: Wie so politische Lösungen für Putin aussehen können haben wir ja bei dieser Art von Präsidentenwahl am Sonntag gesehen. Muss denn der Westen auf Dauer mit Rücksicht auf Moskau so eine Militärherrschaft in Tschetschenien respektieren?

Gernot Erler: Der Westen hat - glaube ich - allen Grund, in dieser Situation zunächst einmal zu sagen, was ist. Und wir sehen jetzt natürlich einen sehr deutlichen Gegensatz zwischen den Behauptungen der russischen Politik, die immer sagt, wir sind auf einem guten Weg, die Normalisierung geht voran, die sogenannte Tschetschenisierung - also die Übernahme der Verantwortung durch Tschetschenen geht voran. Und da haben wir auf der anderen Seite diese Wahlfarce und haben auf der anderen Seite diese enorme Steigerung von terroristischen Aktivitäten, die ja in ganz Russland größte Besorgnis auslösen muss. Diesen Widerspruch muss jetzt Putin erklären. Ich glaube, er ist auch sehr stark an der russischen Öffentlichkeit in die Defensive geraten. Er muss erklären, wie seine Politik eigentlich überhaupt die Sicherheit der Bürger in Russland schützen kann.

Michael Castritius: Denn die Frage ist ja, wie kann man die Tschetschenen von dem fatalen Terrorweg abbringen? Kann da die internationale Gemeinschaft überhaupt etwas helfen?

Gernot Erler: Es kann ja nicht stimmen, dass auf der einen Seite die russische Seite immer sagt, wir sind auf einem guten Weg. Wir machen Fortschritte. Die Normalisierung in Tschetschenien geht voran. Es geht jetzt mehr um Wiederaufbau und um die Entwicklung einer Zivilgesellschaft und demokratischer Strukturen. Auf der anderen Seite verstärken sich in einer Woche derartig stark die Anschläge. Das passt nicht zusammen. Insofern ist da auch ein neuer Realismus der russischen Politik offensichtlich nötig. Deutschland und die EU sollten ernsthaft mit Russland hier zusammenarbeiten und auch überlegen, wie man hier eine Lösung dieses Konfliktes mit allem was man zur Verfügung hat unterstützen kann. Denn natürlich muss man auch befürchten, dass diese Anschläge in Russland die Bereitschaft zu radikalen Lösungen, aber auch zu der Infragestellung von Bürgerrechten, von Pressefreiheit usw. erhöhen wird. Es gibt schon lange einen unschönen Zusammenhang zwischen dem Tschetschenienkonflikt mit seinem ganzen Blut, mit seinen ganzen Opfern, mit seinen ganzen Tragödien, und der Entwicklung der russischen Zivilgesellschaft. Das hat sich leider negativ ausgewirkt.