Vorgänge in Russland nicht stillschweigend hinnehmen. Interview von Gernot Erler im RBB Inforadio, 9. September 2004

Vorgänge in Russland nicht stillschweigend hinnehmen

Gernot Erler, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-russisch-zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit, befragt von Annette Nolting.

Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Erler, hat zu internationaler Solidarität mit Russland aufgerufen.

Im Inforadio vom rbb sagte Erler am Donnerstag zugleich, die Drohung des russischen Militärs, weltweit militärisch gegen Extremisten vorzugehen, sollte nicht unwidersprochen hingenommen werden. Es sei schwer, diese Drohung richtig einzuordnen. "Niemand kann sich natürlich im Augenblick konkret vorstellen, was der russische Generalstabschef damit konkret meinte. Ob er schon konkrete Ziele im Auge hat."

Erler erklärte, in Deutschland könne man sich nicht stillschweigend mit allem abfinden, was in Russland getan werde. "Im Zeichen der Globalisierung ist es natürlich auch für uns eine Sicherheitsfrage, wie dieser ganze Konflikt weitergeht. Wir sind an der Stabilität von Russland nach wie vor geradezu strategisch interessiert," meinte der Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-russische Zusammenarbeit.

Das Interview im Wortlaut:

Annette Nolting: Wie bewerten Sie diese Drohung des russischen Militärs?

Gernot Erler: Ich sehe darin eher einen Versuch, in dieser Situation Stärke zu zeigen, in der die russische Regierung unter großen Druck gekommen ist. Aber diese Äußerungen können natürlich nicht unwidersprochen bleiben. Es ist erfreulich, dass Koffi Annan sofort reagiert hat. Niemand kann sich im Augenblick vorstellen, was der russische Generalstabschef damit konkret meinte, ob er sich schon konkrete Ziele im Auge hat. Man kommt auf einen Platz, den die Russen immer wieder im Auge haben. Das ist das sogenannten Pankisi-Tal in Georgien. Ein sehr schwer zugängliches Tal, in dem immer wieder vermutet wird, dass sich dort tschetschenische Kämpfer zurückziehen und neu gruppieren. Und das in der Vergangenheit auch schon einmal von russischen Kampfflugzeugen angegriffen worden ist.

Annette Nolting: Ist diese Drohung ein Zeichen dafür, dass Putin die Konflikte im Kaukasus nicht politisch lösen will?

Gernot Erler: Putin hat in den letzten Tagen mehrfach auch vor internationaler Presse versichert, dass er eine politische Lösung anstrebt. Insofern glaube ich nicht, dass das eine Abkehr bedeutet, was sein Generalstabschef da sagt. Allerdings hat Putin natürlich eine konkrete Vorstellung von politischer Lösung. Er will sich nicht von seiner Idee der sogenannten Tschetschenisierung abkehren. Diese Präsidentschaftswahl, die am 29. August stattgefunden hat, das ist für ihn ein ganz wichtiger Schritt dabei. Das heißt, er sieht keine Veranlassung, seine bisherige Politik - auch nach der Tragödie von Beslan - zu ändern. Das ist jedenfalls der gegenwärtige Stand.

Annette Nolting: Der Bundeskanzler ist gestern (Mittwoch) im Bundestag für seine Haltung zum Kaukasus-Konflikt noch einmal von allen Seiten kritisiert worden. Es fehlen die offenen Worte zu diesem Konflikt. Man vermisst das Angebot des Kanzlers an Putin, mitzuhelfen diesen Konflikt politisch zu lösen. Vermissen Sie das auch?

Gernot Erler: Es waren nicht alle Seiten. Sondern der Bundeskanzler ist von seiner eigenen Koalition auch gestärkt und unterstützt worden.

Annette Nolting: Aber auch kritisiert worden.


Gernot Erler: Aber auch kritisiert worden, von der anderen Seite jedenfalls. Er hat sehr deutlich erklärt, dass er außer einer politischen Lösung keine Möglichkeit zur Beendigung dieses Konfliktes sieht. Er hat nur darauf gepocht, dass man keine unterschiedliche Bewertung von terroristischen Akten machen muss, dass es sozusagen eine Gleichbehandlung von betroffenen Ländern geben muss. Das hat er in seiner Regierungserklärung getan. Ich denke, es ist schon sinnvoll zu respektieren, dass der Bundeskanzler in einer ganz spezifischen Situation - zum Beispiel als er in Moskau beziehungsweise in Sotschi bei dem Dreiertreffen mit Chirac und dem russischen Präsidenten war - als Gast von Putin unmittelbar nach der Explosion von zwei Flugzeugen nicht öffentlich Kritik üben wollte. Während in den Gesprächen das Thema Tschetschenien breiten Raum eingenommen hatte.

Annette Nolting: Gehen wir einmal davon aus, dass dieser sehr weitreichende, viel schichtige Konflikt im Kaukasus doch zunächst nicht politsch, sondern - wie auch immer - militärisch versucht wird, gelöst zu werden. Kann dann immer noch die unausgesprochen uneingeschränkte Solidarität mit Putin gelten?

Gernot Erler: Ich denke, wir müssen da eine Zeitabfolge im Auge haben. Im Augenblick sehe ich die größte Gefahr darin, dass sich ein schockiertes, paralysiertes Russland einigelt, auf sich selbst zurückzieht. Auch frustriert darüber, dass es - so empfindet man es eben - nicht genügend internationale Unterstützung bekommt. Insofern wäre es jetzt hilfreich und politisch auch wichtig, dass es sichtbare Zeichen der Solidarität mit den betroffenen Menschen in Russland (gibt).

Annette Nolting: Die Leute sind aber zum Beispiel auch sauer, weil sie bis heute nicht informiert worden sind, weil Hilfestellungen unterlassen werden, Journalisten wehren sich. Wie soll Hilfe von deutscher Seite aussehen?

Gernot Erler: Zum Beispiel gibt es die medizinische Hilfe, die jetzt organisiert wird. Es gibt umfangreiche Hilfslieferungen aus verschiedenen Ländern, aus den Vereinigten Staaten, auch aus Deutschland. Es gibt Spendenkonten, die bekannt sind. Was ich meine ist, dass die vor allen Dingen die betroffenen Menschen merken, wir stehen nicht allein. Es gibt international Mitgefühl und auch Solidarität. Das ist in diesem Fall genau so wichtig wie das seinerzeit nach dem 11. September in Amerika wichtig war. Ich sage, das ist der erste Schritt. Aber natürlich wird es mittelfristig auch die Notwendigkeit geben, mit unseren russischen Kollegen und Partnern zu diskutieren. Wir können uns sozusagen nicht stillschweigend mit allem abfinden, was in Russland getan wird. Denn im Zeichen der Globalisierung ist es natürlich auch für uns eine Sicherheitsfrage, wie dieser ganze Konflikt weitergeht. Denn - wie gesagt - da werden Flugzeuge in die Luft gesprengt, da werden auf offener Straße Selbstmordattentate gemacht, das ist ein Sicherheitsrisiko für Leute, die Russland besuchen. Das ist unser unmittelbarer Nachbar. Wir sind an der Stabilität von Russland nach wie vor geradezu strategisch interessiert