Presseerklärung vom 11. September 2004

Drei Jahre nach dem 11. September: Eine Bestandsaufnahme

Zum 3. Jahrestag der Anschläge von New York und Washington erklärt der Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler:

In diesen Tagen jähren sich die furchtbaren Anschläge von New York und Washington zum dritten Mal. Noch ganz frisch sind dagegen die grauenhaften Bilder des Geiseldramas von Beslan. Dazwischen liegen drei Jahre, in denen Terroristen eine blutige Spur der Zerstörung und Vernichtung hinter sich her gezogen haben. Namen wie Istanbul, Madrid oder Djerba stehen stellvertretend für sinnlose Massaker an wahllos getroffenen Opfern.

Der jüngste Anschlag in Beslan hat die Grausamkeit und Perversion der Attentäter noch gesteigert. Die kaltblütige Ermordung von wehrlosen Kindern stellt einen bewusst inszenierten Tabubruch dar. Ganz gezielt setzen die Attentäter dabei auf die ihnen gewährte Live-Berichterstattung in den Medien. Nahezu zeitgleich mit dem Eintreffen der Sicherheitskräfte sind die Objektive von CNN und anderen bereits aufgebaut, um die Botschaft der Terroristen bis in den letzten Winkel der Erde zu transportieren. Der Zuschauer als unmittelbarer Zeitzeuge bleibt zurück in seiner ganzen Fassungslosigkeit und Ohnmacht gegenüber den scheinbar omnipotenten Tätern.

Die Zwischenbilanz, die wir im Kampf gegen den Terrorismus drei Jahre nach dem 11. September ziehen müssen, ist trotz mancher Erfolge zwiespältig: Auf der Habenseite steht zweifellos die Entmachtung der Taliban in Afghanistan, die dem Land wieder eine Perspektive zurückgegeben hat. Die Stabilisierung des Landes macht Fortschritte: Über 10 Millionen Menschen haben sich für die bevorstehenden Wahlen registrieren lassen.

Dennoch wird das Land noch auf viele Jahre hinaus auf internationale Hilfe angewiesen sein. Zwar ist es dank des internationalen Engagements in Afghanistan gelungen, die Operationsbasen der Terrornetzwerke empfindlich zu stören, von einer Ausschaltung kann aber keine Rede sein. Ein militärischer Sieg über den Terrorismus, das zeigen die zurückliegenden drei Jahre, bleibt offensichtlich Illusion.

Es gab auch bittere Rückschläge im Kampf gegen den global agierenden Terrorismus. Der Irak-Krieg hat die Allianz gegen den Terror geschwächt, er bindet enorme Ressourcen (USA: bisher 200 Mrd. US-Dollar) und hat den Irak selbst zu einem Tummelplatz unterschiedlichster Terrorbanden werden lassen. Heute befindet sich ein Großteil des Landes unter Kontrolle aufständischer Gruppierungen, und es gibt wenig Aussicht, dass sich an dieser fatalen Situation in absehbarer Zukunft etwas Grundlegendes ändert.

Die Terroristen von New York bis Beslan verhöhnen die internationale Rechtsordnung. Sie wollen uns zwingen, unsere in einem langen zivilisatorischen Prozess gewonnenen Normen und Selbstbindungen aufzugeben. Sie wollen uns in einem Strudel von Eskalation, Hass und Grenzüberschreitungen auf ihr Kampfniveau herunterziehen, auf dem sie sich überlegen fühlen.

Ohne eine global kooperierende Repression und Verfolgung der weltweit agierenden Terrornetzwerke gibt es keine Chance, Anschläge zu erschweren oder zu vereiteln. Aber dabei dürfen weder die Freiheitsrechte des einzelnen noch die Regeln des Völkerrechts geopfert werden. Denn nur lebenswerte, offene und sinnstiftende Gesellschaften bringen die Kraft auf, sich nachhaltig gegen die zerstörerische Kraft der terroristischen Gewaltanwendung zu wehren. Dieses Prinzip, eine weitgehende Rechts- und Normenwahrung mit den notwendigen Verfolgungsmaßnahmen gegen den Terrorismus in Einklang zu bringen, hat sich in den letzten drei Jahren nicht überall durchgesetzt. Der Anspruch von Präsident Bush auf vorbeugende Erstschläge (preemptive strikes) ohne formale völkerrechtliche Legitimation zeigt nicht nur im Irakkrieg seine Problematik, sondern jetzt auch in dem russischen Folgeanspruch, weltweit militärische Schläge gegen vermutete Terrorbasen führen zu wollen, als Reaktion auf die Beslan-Ohnmacht. Kofi Annans Warnungen vor dieser Entwicklung sind berechtigt und verdienen unsere volle Unterstützung.

Je deutlicher sich Terror durch bewaffnete Antworten nicht besiegen lässt, desto wichtiger wird, sein Umfeld und seine Rekrutierungschancen einzuschränken. Wir dürfen nicht die Perspektivlosigkeit von ganzen Generationen hinnehmen, und auch nicht die tagtägliche Demütigung und Entwürdigung von Menschen akzeptieren, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort geboren worden zu sein, ganz gleich ob im Gazastreifen oder in Tschetschenien. Dies treibt den Advokaten des Schreckens den Nachwuchs praktisch von allein in die Arme. Wer hier nicht ansetzt, um die Lebensbedingungen insbesondere junger Menschen in diesen Regionen zu verbessern, der hat den Kampf gegen den Terrorismus bereits verloren. Drei Jahre nach dem 11. September und eine Woche nach Beslan gewinnt diese notwendige Einsicht an Bedeutung