Erler fordert Stabilitätspakt für den Kaukasus, Netzeitung, 9. September 2004

Erler fordert Stabilitätspakt für den Kaukasus

SPD-Außenexperte Erler umreißt im Gespräch mit der Netzeitung eine Strategie zur Lösung des Tschetschenien-Konflikts. Die Europäische Union könnte Russland einen Stabilitätspakt für den Kaukasus anbieten, sagte er.

Von Dietmar Neuerer

Nach dem Geiseldrama in der russischen Teilrepublik Nordossetien hat der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagfraktion, Gernot Erler, an die westlichen Staaten appelliert, sich nicht von Russland abzuwenden. Es sei wichtig zu verhindern, «dass sich die russische Föderation nach der Tragödie von Beslan politisch einigelt, einsame Entscheidungen trifft und sich dabei frustriert fühlt über ausbleibende Solidarität der westlichen Staaten», sagte Erler im Gespräch mit der Netzeitung.

Dem "Gefühl der Isolierung" müsse mit einer Geste der Solidarität entgegengewirkt werden. Man müsse Russland unterstützen, insbesondere müsse den betroffenen Menschen Hilfe zur Verfügung gestellt werden.

Pakt für den Nordkaukasus

Erler, der auch Koordinator der Bundesregierung für deutsch-russische Beziehungen ist, sieht die "große Gefahr", dass sich der Tschetschenienkonflikt auf die ganze Nordkaukasusregion ausweiten könnte. Europa sei deshalb gefordert, Russland bei der Stabilisierung der Region zu helfen. Die Europäische Union müsse mit Russland über die Zukunft des ganzen Nordkaukasus reden, forderte er.


Mit Blick auf den Kampf gegen den internationalen Terrorismus wäre es zudem geboten, weitere Nationen einzubinden. Erler sprach sich dafür aus, einen "Stabilitätspakt für den Kaukasus" zu schließen. Russland solle dabei die führende Rolle einnehmen - neben der Europäischen Union und Nachbarstaaten wie Georgien. Auch internationale Finanzinstitutionen sollten dabei sein. Als Vorbild, so Erler, könne der Stabilitätspakt für Südosteuropa dienen. Dieser habe der Balkanregion erfolgreich eine Perspektive in bezug auf Stabilisierung und Prosperität gegeben. Zur Lösung des Tschetschenien-Konflikts regte Erler in diesem Zusammenhang eine Drei-Punkte-Strategie an, über die die Europäische Union mit der russischen Seite verhandeln sollte.

Fazit der russischen Tschetschenienpolitik

Zunächst solle ein «nüchternes und ehrliches Fazit» der bisherigen russischen Tschetschenienpolitik mit dem Plan der so genannten Tschetschenisierung gezogen werden, führte Erler aus. Die russische Regierung müsse der eigenen Bevölkerung eine realistische Bestandsaufnahme der Lage in Tschetschenien und im Nordkaukasus vermitteln und diese auch öffentlich zur Diskussion stellen. «Das bisher vermittelte Bild, dass die Sicherheitslage immer besser wird, dass man die Rebellen weitergehend zurückgedrängt habe und das eine politische Stabilisierung nur noch eine Frage der Zeit sei, hat sich als nicht überzeugend erwiesen», so Erler.

Widerrechtliche Übergriffe unterbinden

Als zweiten Punkt schlug Erler im Gespräch mit der Netzeitung vor, sich dem Problem anzunehmen, «wie man gegen die offensichtliche Fähigkeit der tschetschenischen Kämpfer sich jederzeit aus der Bevölkerung neu zu rekrutieren» vorgehen könne. Nach Erlers Einschätzung bestehe "sicherlich ein Zusammenhang" zwischen der Rekrutierung und den "widerrechtlichen Übergriffen" sowohl aus einem Teil der russischen Sicherheitskräfte als auch aus den Milizen des ehemaligen tschetschenischen Präsidenten Kadyrow. "Es wäre ein entscheidender Punkt im Kampf gegen diese Rekrutierungsquelle, diese unrechtmäßigen Maßnahmen, über die ständig geklagt wird, zu unterbinden und die Schuldigen zu bestrafen", sagte der SPD-Außenexperte.

Soziale und ökonomische Perspektive

Als dritten Punkt nannte Erler die soziale und ökonomische Situation der tschetschenischen Bevölkerung. Diesen Punkt habe der russische Präsident Wladimir Putin selbst bereits ins Gespräch gebracht, nachdem er sich nach dem Attentat auf Kadyrow im Mai ein Bild von Grosny aus der Luft machen konnte.

Dabei habe er erkennen können, so Erler, dass Grosny eine komplette Ruinenstadt sei, obwohl Moskau jährlich Milliarden von Rubel für den Wiederaufbau und die Schaffung einer Infrastruktur zur Verfügung stelle. "Es muss eine soziale und ökonomische Perspektive für die leidende Bevölkerung von Tschetschenien geschaffen werden", so Erler. Erst wenn eine solche Perspektive der Hoffnung entstehe sei es überhaupt möglich, die Jugend davor abzuhalten, sich von Rebellengruppen anwerben zu lassen.


Kritik an Präventiv-Angriffs-Strategie

Besorgt äußerte sich Erler über die Ankündigung Russlands, sich angesichts des Ausgangs des Geiseldramas von Beslan Präventiv-Angriffe auf Terror-Stützpunkte in aller Welt vorzubehalten. "Leider bestätigt sich hier die Befürchtung, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, wann andere Länder außerhalb von Amerika ähnliche Ansprüche auf die weltweite Verfolgung von Terroristen mit militärischen Mitteln erheben, ohne Rücksicht auf das Völkerrecht", sagte der SPD-Außenpolitiker der Netzeitung. "Das muss einen außerordentlich besorgt machen."


Erler begrüßte die Ermahnungen Russlands durch Uno-Generalsekretär Kofi Annan. Dieser habe die "Brisanz dieser Ankündigung" umgehend verstanden. Das "Gebot der Stunde" sei es, die Warnungen und Mahnungen des Generalssekretärs nachhaltig zu unterstützen. Erler riet Russland, "jetzt nicht nach dem Motto zu verfahren, Ihr versteht uns nicht und im Übrigen hat uns niemand reinzureden, wenn wir in dieser Situtaion handeln".


Vielmehr gebe es eine strategische Partnerschaft zwischen der EU und Russland. Dies bedeute, dass man bei gemeinsamen Gefahren auch gemeinsam handeln müsse. "Dazu müssen beide beitragen."