Gelenkte Diplomatie
Am 9. Mai 2005 wird Bundeskanzler Schröder in Moskau an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes teilnehmen. Es wird nicht leicht sein, die richtigen Worte zu finden. In praktisch jeder russischen Familie sind auch heute noch die Erinnerungen wach an die Leiden und an die schwer vorstellbare Zahl von 30 Millionen Opfern.
Dass erstmals ein deutscher Regierungschef zu diesem Gedenktag eingeladen wird, steht symbolisch für eine neue Qualität des deutsch-russischen Verhältnisses. Das ist auf allen Ebenen intensiviert worden. In der internationalen Politik gibt es wichtige Gemeinsamkeiten mit Moskau: Stärkung der Vereinten Nationen und des Multilateralismus, Abrüstung weiter über internationale Verträge, Kooperation beim Kampf gegen den Terrorismus. Russland ist ein verlässlicher Partner bei der Friedenskonsolidierung in Regionalkonflikten und beim Bestreben, endlich im Nahost-Konflikt über die "Road Map" zu einer Friedenslösung zu kommen. Der rasche Anstieg im Handelsvolumen und bei der wirtschaftlichen Kooperation sichert in Deutschland Arbeitsplätze. Es war eine persönliche Initiative des Bundeskanzlers, mit dem russischen Präsidenten über den „Petersburger Dialog" einen Anstoß für einen nachhaltigen Austausch der Zivilgesellschaften in beiden Ländern zu geben und jetzt, besiegelt bei dem Treffen in Hamburg, aus dem Engagement des „Petersburger Dialogs" heraus eine neue Grundlage für den deutsch-russischen Jugendaustausch zu schaffen.
Die neue Dichte der Beziehungen schafft viele neue Möglichkeiten, sich gegenseitig zu verstehen, zu befragen und aufeinander einzuwirken. In der vergangenen Woche berichteten beispielsweise zwei führende Vertreter der berühmten russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial" vor den Mitgliedern der „Deutsch-Russischen Parlamentariergruppe" im Bundestag über ihre Sorgen, was die demokratische Entwicklung in Russland angeht, und sie nahmen dabei kein Blatt vor den Mund. Parallel dazu bezogen andere regierungskritische Vertreter der russischen Gesellschaft bei einer Veranstaltung der Heinrich- Böll- Stiftung in Berlin Stellung zum Fall Yukos. Bei der Erörterung der Frage, ob in Russland jetzt der Übergang der „gelenkten Demokratie" zur „autokratischen Demokratie" drohe, fanden sie ein gut informiertes und sachkundiges Auditorium.
Auf allen Ebenen kommen unsere Sorgen über die aktuelle russische Entwicklung zur Sprache, auch zwischen Schröder und Putin. Der Bundeskanzler lehnt es allerdings ab, die Politik des russischen Präsidenten öffentlich und mit erhobenem Zeigefinger zu kommentieren. Er will das besondere Vertrauensverhältnis, das zwischen beiden entstanden ist, partout nicht preisgeben. Wie politisch bedeutsam diese „Sturheit" werden kann, zeigte sich bei der Ukraine-Krise. Innerhalb einer Woche konnte Gerhard Schröder den russischen Präsidenten in zwei Telefongesprächen zu auch für die Opposition in Kiew wichtigen Zugeständnissen bringen. Kein anderer in Europa hätte dies vermocht.
Die Opposition weiß das gut. Trotzdem drängt sie ständig den Kanzler zum erhobenen Zeigefinger, der mehr aufgeben als erreichen würde. Wie wohlfeil und durchschaubar diese stereotype Kritik ist, merkt man bei der Beobachtung der Auftritte von Wolfgang Schäuble, Volker Rühe und Friedbert Pflüger in Moskau. Zuletzt haben sie sich dort jede Kritik an Putin verkniffen und ihm sogar das Prädikat „unersetzbar" verliehen.