Die "Ökonomisierung der Betroffenheit" als Herausforderung der SPD von Gernot Erler, MdB

Das war ein seltsamer 3-Themen-Sommer (übrigens: aus den Reihen der SPD kam diesmal keines der üblichen Sommerstörfeuer!). Erst rückten die Kampfhunde auf die Headlines, sind da aber ebenso schnell wieder verschwunden. Dann - noch nicht ganz ausgestanden - trieb die Nation die Frage um, ob, wann und wo Exkanzler Helmut Kohl am 10. Jahrestag sprechen soll/darf/muss - ein Thema, lächerlich und mit dem definitiven Verfallsdatum 3. Oktober 2000.

Das dritte Sommerthema wird uns nicht so schnell verlassen. Das Auftreten von Rechtsradikalen in unserer Republik ist über Nacht zum Topthema und Tagesordnungspunkt der ersten Kabinettssitzung in Berlin geworden. Der Anlass dafür ist nicht so leicht auszumachen. Hat es wirklich signifikant mehr Übergriffe von "Glatzköpfen" auf Menschen gegeben, die nicht wie Deutsche aussehen? Hat die NPD sich tatsächlich plötzlich verfassungsfeindlicher verhalten als in der Vergangenheit? Besteht heute eine größere Gefahr von Rechts als noch vor drei Monaten?

Ein richtiger Anlass ist in Wahrheit nicht auszumachen. Wohl aber ein eher allgemeiner Hintergrund, der den Namen Globalisierung trägt. Die "Global Player" der Weltwirtschaft sind heute wirklich international. Sie agieren weltweit, mit einem Mitarbeiterstab aus allen Ecken der Welt und mit unterschiedlicher Hautfarbe. Wenn solche Mitarbeiter einer Weltfirma plötzlich sagen "In ein Land, wo meine Kinder angepöbelt werden und ich womöglich am helllichten Tag vom rechten Mob durch die Strassen gejagt werde, gehe ich nicht!", dann hat Deutschland ein Standortproblem. Der aggressive Rechtsradikalismus auf Deutschlands Strassen und Plätzen schadet heute nicht nur, wie schon immer, unserem Ansehen, sondern entwickelt ökonomische Negativauswirkungen, bezifferbar in Mark und Pfennig.

Da gibt es einen Zusammenhang mit der "Green Card". Wir wollen, dass Ausländer, egal welcher Hautfarbe, zu uns kommen, wenn sie gute Fachleute in Informationstechnologie sind. Sie sollen auf Zeit in Deutschland arbeiten, weil ohne diese Hilfe von außen die Konkurrenzfähigkeit dieser Zukunftstechnologie am Standort Deutschland gefährdet erscheint. Bisher melden sich aber zu wenige Bewerber, warum sollten sie auch nach Deutschland kommen, wo ihnen die Skins der rechten Szene vielleicht ihren Kopf mit Baseballschlägern unbrauchbar schlagen, sie gleichzeitig aber auch gute Angebote aus Ländern erhalten, wo so etwas nicht vorkommt? Die rechte Gewalt wirft Deutschland im weltweiten Wettbewerb empfindlich zurück - und deshalb erleben wir in diesem Sommer ein so breites Bündnis gegen diese Gewalt, von den Arbeitgebern bis zu den Gewerkschaften, vom rechten bis zum linken Spektrum des Parteiensystems und der ganzen Öffentlichkeit.

Über diesen Beobachtungen könnte man ins Grübeln kommen, ja sich zynischen Reaktionen ergeben: Solange sich der Hass auf Ausländer in Deutschland gegen Asylbewerber und andere Wehrlose ohne messbaren ökonomischen Schaden richtet, gab es keinen kampagneartigen gesellschaftlichen Widerstand wie jetzt. Dazu bedurfte es erst der Ökonomisierung der Betroffenheit, wie wir sie derzeit beobachten.

Eine solche Betrachtung ist nicht ganz fair. Es gab auch echte Betroffenheit und Widerstand - wenn auch nicht ganz so breit und entschlossen wie heute -, als die Asylbewerberheime häufiger angezündet wurden. Und abgesehen davon muss man die Chance nutzen: Nie bisher gab es solche Möglichkeiten, mit Aktionen gegen Ausländerfeindlichkeit und gegen rechte Gewalt eine so breite Unterstützung zu finden. Hierbei haben Sozialdemokraten, die gegen Ausländerfeindlichkeit auch in weniger opportunen Situationen aktiv waren und insofern eine eigene Kontinuität zu verteidigen haben, eine besondere Aufgabe. Wohl wissend, dass die sehr späte Entschädigung von Zwangsarbeitern aus der Nazizeit (in Kohls Regierungszeit wurden alle Chancen dazu ausgelassen), dass die Green-Card-Initiative und die jetzt eingeleitete geschlossene Bekämpfung der Gewalt von Rechts, dass alle diese politischen Entwicklungen engstens mit deutschen Wirtschaftsinteressen verbunden sind, müssen wir den ethischen und moralischen Zusammenhang herstellen: Zwangsarbeit muss, und sei es symbolisch, entschädigt werden, weil Zwangsarbeit die Würde des Menschen verletzt hat - nicht weil deutsche Firmen ohne diese Entschädigungen Probleme in den USA bekommen hätten! Eine Einwanderungsregelung (und die "Green Card" kann nur ein Auftakt dazu sein) muss nicht wegen des Spezialistenbedarfs der deutschen Wirtschaft kommen, sondern weil der aus Not erfolgende Rückgriff auf die Asylregelung, weil es keine legale Einwanderung gibt, verheerende Folgen nach sich zieht! Und das Jagen von ausländisch aussehenden Menschen durch Deutschlands Straßen muss aufhören, weil es einer zivilisierten Gesellschaft unwürdig ist, und nur deshalb!