Vom Sieg, der kein Modell sein kann

Der Kosovo-Krieg und die Folgen

Wichtige politische Ereignisse passieren zweimal. Zuerst in ihrer physisch-realen Faktizität, dann als Verarbeitung in den Köpfen. Als Produkt steht am Ende eine Einordnung, ein Verständnis von dem, was passiert ist, als Beitrag zum politischen Bewußtsein. Am 10. Juni 1999 endete der Kosovo-Krieg mit seinen grellen Detonationen. Um das, was von ihm in unseren Köpfen bleiben soll, wird noch gerungen.

Entsprechend gibt es keinen umfassenden Konsens zur Bilanz des Krieges, wohl aber einige kaum bezweifelbare Fakten. Nach 79 Kriegstagen mit 32 000 Luftangriffen und nach umfangreichen diplomatischen Bemühungen konnte der Westen seine wichtigsten Ziele erreichen: Die serbische Führung hat die massenhafte Vertreibung der albanischen Kosovo-Bevölkerung gestoppt, hat Streitkräfte, Sondereinheiten und Para-Militärs aus dem Kosovo zurückgezogen, und unter dem Schutz bewaffneter internationaler Einheiten (der KFOR) kehren die Vertriebenen und Flüchtlinge in ihre Heimat zurück. Bis Ende Juli 1999 waren es etwa 750.000 Menschen und damit 85 Prozent derer, die vorher flüchten mußten.

Wenn es richtig ist, daß Milosevic schon seit 1989 eine strukturelle Vertreibung der Kosovo-Albaner organisiert hat und daß er 1998/99 den Kampf gegen die Separatisten der UCK bewußt und geplant in eine terroristische Massenvertreibung der albanischen Kosovo-Bevölkerung ausweitete - und dafür sprechen viele Fakten, einschließlich der schon über 100 gefundenen Massengräber im Kososvo -, dann ist diese Politik durch den Luftkrieg der NATO gestoppt worden. Zu dem befürchteten Präzedenzfall, daß man nämlich an der Schwelle zum 21. Jahrhundert einen ethnischen Konflikt auf diese gewalttätige Weise lösen könne, ohne auf internationalen Widerstand zu stoßen, ist es nicht gekommen. Auf potentielle Nachahmer, und das war so gewollt, wird die Erfahrung des Kosovo-Krieges abschreckend wirken.

Bei der Frage, wie dieser politische Erfolg erzielt wurde und welcher Preis dafür gezahlt werden mußte, fällt die Bilanz weitaus problematischer aus. Als die Serben am 20. Juni 1999 ihren Abzug aus dem Kosovo abschlossen, waren an den internationalen Beobachtern 47.000 Mann, 250 Kampfpanzer, 450 Panzerwagen und 800 Artilleriesysteme vorbeigezogen. Soviel hätten es gar nicht sein dürfen, folgt man der Er-folgsbilanz der NATO: Demnach hätten die Serben 6 000 Mann, 122 Kampfpanzer, 222 gepanzerte Transporter und 454 Geschütze im Kosovo verloren. Zugegeben haben die Serben 13 Panzer-Verluste - eine Größenordnung, die auch unabhängige Journalisten angesichts zahlrei-cher vorgefundener zerstörter Attrappen für realistisch halten. Nicht ein-mal die serbische Luftabwehr konnte in den 11 Kriegswochen ausge-schaltet werden.

Die militärischen Verluste im Kosovo können es demnach kaum gewesen sein, die Milosevic letztlich zum Einlenken bewegten. Schon eher die Kriegsschäden in Restjugoslawien, für die es noch keine genaue Bilanz gibt, die sich nach Angaben einer unabhängigen Gruppe jugoslawischer Ökonomen aber auf einen Gegenwert von 30 Mrd. Dollar summieren - darunter 200 Fabriken, 190 Schulen, 50 Spitäler, 50 Brücken, 5 Zivilflughäfen sowie ungezählte Wohnhäuser und Agrarbetriebe.

Die doppelte Wirklichkeit des Krieges, den wir erlebt haben, weicht von den Bildern ab, die uns übermittelt wurden. Als Antwort auf den grausamen Vertreibungsfeldzug des serbischen Militärs und seiner Helfer gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung erfolgte ein Luftkrieg der NATO, der sich als wenig wirksam gegen dieses Militär erwies, aber äußerst wirksam den Kernbestand der ökonomischen und Versorgungsinfrastruktur Restjugoslawiens zerstörte. Die unangenehme Wahrheit ist, daß diese Angriffe auf Fabriken, Brücken und Elektrizitätswerke einschließlich der dabei unvermeidlichen zivilen Opfer die Bereitschaft der serbischen Führung zum Nachgeben herbeigebombt haben.

Daß dies so war, liegt keineswegs an irgendwelchen unveranwortlichen Zielplanern. Diese Entwicklung folgt vielmehr der unsichtbaren Logik des Dogmas vom "Krieg ohne Risiko". In der Führung des Kosovo-Krieges schlug sich eine kollektive Erfahrung demokratischer Gesellschaften nieder. Sie besagt, daß militärische Interventionen, wenn diese nicht mit Überlebensfragen z. B. im alle Falle eines Angriffs auf das eigene Territorium verbunden sind, ohne eigene Verluste bleiben müssen, soll die öffentliche Zustimmung erhalten bleiben. Selbst konsensfähige Legitimationen wie der Schutz von Menschenrechten oder die Beendigung von blutigen Bürgerkriegen können sehr schnell an einer kippenden öffentlichen Meinung auflaufen, wenn es zu eigenen Verlusten an Leib und Leben kommt.

Die Amerikaner mußten diese Lektion im Somalia lernen. Sie haben danach die Entwicklung von High-Tech-Waffenarsenalen, die eine Kriegsführung aus sicherem Abstand ermöglichen, intensiviert. Der Kosovo-Krieg hat bewiesen, daß die NATO in 79 Tagen 32.000 Luftangriffe in einer Höhe von über 5.000 Metern fliegen kann, ohne dabei einen einzigen Mann zu verlieren. Eigenverluste haben den Konsens keine Minute infrage gestellt, wohl aber die Tatsache, daß sich bei dieser Kriegsführung das zu Beginn der Luftangriffe am 24. März 1999 proklamierte Ziel, die terroristische Offensive des serbischen Militärs im Kosovo zu stoppen und seine Bewohner vor Vertreibung zu schützen, als unerreichbar erwies. Und es dauerte quälend und zerstörerisch lange, bis der gewählte "Umweg" über die Bombardierung Restjugoslawiens in Verbindung mit den intensiven diplomatischen Bemühungen zum Ziel führte.

Wenn Demokratien Krieg führen, dann muß es so geschehen, wie wir es erlebt haben. Unvorstellbar, daß Verluste bei Tiefflugangriffen auf das vorrückende serbische Militär oder beim Einsatz von Bodentruppen die demokratischen Regierungen der Allianz zu einem Rückzug ohne Ergebnis hätten zwingen können. Höchst risikoreich aber auch der Ablauf, den wir erlebt haben: Die Wirkungslosigkeit der Luftangriffe trotz ihrer ständigen Eskalation und Ausweitung hätte nicht mehr lange hingenommen werden können, sie hätte das Bündnis am Ende doch zum Bodenkrieg gezwungen und damit in das beschriebene Risiko des kompletten Scheiterns. Wir kennen die Berichte von den "Jedi Knights" und ihrer Opperation "B-Minus", die schon vorbereitet war.

Neben dieses enorme Risiko, um der eigenen Glaubwürdigkeit willen eskalieren zu müssen und dann an der demokratischen Verfaßtheit der eigenen Öffentlichkeit scheitern zu können, treten weitere. Zur völkerrechtlichen Legitimation der NATO-Intervention ohne Beschlußfassung der Vereinten Nationen ist vieles und widersprüchliches vorgetragen worden. Die Frage, welche Lehrmeinung richtig ist und sich durchsetzen wird, muß uns interessieren. Schon heute steht aber fest: Mit dem Koso-vo-Krieg hat die NATO eine eigene Entscheidung zu einer massiven Mi-litärintervention auf die rechtliche Basis nichtkodifizierten Völkerrechts gestellt. Das muß zu einer Weltordnung mit mehr Unsicherheit und Beliebigkeit führen, wenn der Kosovo-Krieg nicht eine verbindliche Weiter-entwicklung des Völkerrechts auslöst. Wenig Phantasie ist erforderlich, um sich vorzustellen, wie andere Allianzen sich bei künftigen Interven-tionen sonst auf den NATO-Präzedenzfall berufen werden.

Sorge muß auch bereiten, daß am Ende des Kosovo-Krieges ähnlich wie in Bosnien-Herzegowina eine protektoratsähnliche Ordnung steht, die für längere Zeit auch umfangreiche militärische Kräfte bindet. Das geht so weit, daß die Bundesregierung eine Ausweitung der "Krisenreaktionskräfte" innerhalb der Bundeswehr einleiten muß, um einen erträglichen Wechsel der in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo stationierten Einheiten gewährleisten zu können. Andere Länder sehen sich vergleichbaren Auslastungen gegenüber. Das bedeutet aber auch, daß eine eventuelle neue Intervention nach Art des Kosovo-Krieges oder gar mit ähnlichem Protektoratsergebnis mit den vorhandenen militärischen Kapazitäten kaum noch zu bewältigen wäre.

Dieser zweite Teil der Bilanz des Kosovo-Krieges macht deutlich: Sein politischer Erfolg ist mit unverantwortlich hohen Risiken und Kosten ver-bunden, was es unmöglich macht, aus dem Präzedenzfall Kosovo-Krieg ein zukunftsfähiges Modell künftiger Konfliktlösung entwickeln zu können. Es gab einen Punkt, an dem zu der militärischen Intervention der NATO keine Alternative mehr bestand. Die Folgerung muß lauten: Zu diesem Punkt darf es nicht wieder kommen. Wenn der Krieg gegen Milosevic die ultima ratio in einer politischen Situation war, in der sich der Westen nach einer Vorgeschichte voller politischer Fehleinschätzungen reusenartig verfangen hatte, dann muß der Hebel bei der Vorgeschichte angesetzt werden - quasi bei der prima ratio.

Man sollte eigentlich annehmen, daß eine solche Antwort auf die Herausforderung des gerade überstandenen Kriegsgeschehens in einem Land naheliegt, das schon während des Krieges wichtige Initiativen auf den Weg brachte, die aus der Fallensituation herausführten. Mit dem Namen des deutschen Außenministers verbinden sich die Anstrengungen, zur Kriegsbeendigung einen Beschluß der Vereinten Nationen anzustreben, die Russische Föderation einschließlich ihrer diplomatischen Vermittlerdienste stärker einzubeziehen, die Hürden für einen Waffen-stillstand abzusenken und bei der Frage der Zusammensetzung der Friedenstruppen Flexibilität zu zeigen. Der mitten im Krieg gemachte Vorschlag zu einem "Stabilitätspakt für Südosteuropa" weckte Hoffnungen auf eine Nachkriegsordnung der Konsolidierung mitten in einer Län-derfamilie rund um Jugoslawien, die der Krieg allesamt in eine ökono-misch und politisch verlustreiche Mithaftung genommen hat.

Solche Erwartungen gehen leider vorerst ins Leere. Interessen, die in anderer Weise die Erfahrungen des Kosovo-Krieges ummünzen, gewinnen derzeit die Oberhand. In der "defense community" der EU geht es hauptsächlich um die Frage, wie künftig die Europäer endlich selber die militärischen Aufgaben übernehmen könnten, die während der 79 Kosovo-Kriegstage noch einmal die Amerikaner alleine schultern mußten. Die bekannten Forderungen nach eigenständigen europäischen Satelliten-Aufklärungs- und Lufttransport- Kapazitäten erhalten neues Leben. Nicht nur in Frankreich, das mit Stolz auf seinen mit 11 Prozent zweitstärksten Anteil an den Lufteinsätzen hinweist, fanden Forderungen nach mehr Finanzmitteln für High-Tech-Rüstungsgüter öffentliche Unterstützung. Einschlägige Anbieter, allen voran die drei US-Giganten Raytheon, Lockheed-Martin und Boeing-Mc Donnell Douglas, aber auch die großen europäischen Rüstungskonzerne von Thompson-CSF über British Aerospace bis zur DASA rechnen auf zusätzliche Aufträge und verbuchen spektakuläre Aktienwertsteigerungen. Das die Amerikaner den Luftwaf-fengeneral Joseph Ralston als Nachfolger des Heeresgenerals Wesley Clark zum SACEUR machen werden, wird prompt als Verbeugung vor dem Luftkriegsmodell Kosovo als Prototyp künftiger NATO-Missionen interpretiert. Da beruhigt es beinahe, daß in den Vereinigten Staaten parallel dazu eine heftige Debatte um das amerikanische "national interest" geführt wird, mit einer kontroversen Diskussion darüber, ob Fälle wie Kosovo tatsächlich ein so aufwendiges "engagement" rechtfertigen, so daß sich Außenministerin Madeleine Albright zu der öffentlichen Ver-sicherung gezwungen sah, daß der Kosovo-Krieg nicht als Präzedenzfall für künftige Interventionen des Bündnisses angesehen werden könne.

Aber im Umfeld solcher Bewußtseinsbildung zur Frage, was "lessons learnt" nach dem Krieg eigentlich bedeutet, bleibt die notwendige politische Prioritätenverschiebung auf der Strecke. Wir haben noch nicht vergessen, daß es die sträflich unterausgestattete OSZE nach dem Milosevic-Holbrooke-Abkommen vom Oktober 1998 in fünf Monaten nicht schaffte, die verabredeten 2.000 Monitore der Kosovo-Verifikations-Mission ins Krisengebiet zu entsenden (über 1.380 kam sie nicht hinaus) - da hören wir, daß es jetzt bei den dringend benötigten Polizeikontin-genten der Vereinten Nationen für den Kosovo klemmt. Eine Mannschaftsstärke von 3.160 ist vorgesehen, die UNO wäre froh, wenn sie bis Ende Juli 800 Polizisten vor Ort hätte, aber bis zu diesem Zeitpunkt fehlten für ein Drittel der Sollstärke sogar noch die internationalen Zusa-gen. Es ist einfacher, 1.000 Kampfflugzeuge in die Kriegsregion zu bringen, als 3.000 Polizisten in die Dörfer des Kosovo, damit nicht auch noch der Rest der Serben und Roma vor den Übergriffen der Albaner die Flucht ergreift.

Den Frieden im Kosovo zu gewinnen, wird nicht leichter sein, als den Krieg gegen Belgrad zu gewinnen. Der dichter werdende Konferenzrhythmus im Kontext des Stabilitätspakts kann einen Umstand nicht kaschieren: Das Mißverhältnis von Präventionsfähigkeiten und Interven-tionskapazitäten, das für die Vorgeschichte des Kosovo-Krieges festgestellt werden muß, findet jetzt, nach dem Krieg, seine Fortsetzung. Während der 79 Tage dauernden Militäraktionen, deren genaue Kosten bis heute nicht bekannt sind, hat niemand über Geld geredet. Jetzt, mehr als sieben Wochen nach dem Ende der Kampfhandlungen, geht es erstmals um Wiederaufbau, Schadensausgleich und Stabilisierungs-maßnahmen - und da erleben wir eine ganz andere Art, Entscheidungen zu treffen. Taktik bestimmt das Bild, nach der Art: "Sag Du mir, was Du zu geben bereit bist, dann sage ich Dir, was ich beitragen werde!" Erst einmal sollen Bilder von entschlossenen Staatsmännern und wohltönen-de Deklarationen um die Welt gehen, alles andere kommt später, nach dem Tauziehen der Experten, im Kleingedruckten der Tagespolitik.

Der "Stabilitätspakt für Südosteuropa" ist das in den Tagen des Krieges nachgereichte politische Konzept zur Verhinderung des Krieges. Ich habe dafür den Begriff der "nachholenden Prävention" benutzt. Wenn die EU-Länder den Stabilitätspakt jetzt aber - und das zeichnet sich ab - aus ihren laufenden Mitteln für entwicklungspolitische Vorhaben finanzieren wollen, gibt das ein falsches Signal. Wo politische Prävention versagte, werden zur nachholenden Prävention im Sinne von Wiederaufbau, Schadensausgleich und Stabilitätsstrategien Mittel eingesetzt, die eigentlich in anderen Regionen zur Prävention eingesetzt werden sollten. Das erinnert an innenpolitische Rumwerkeleien, bei denen Geld zwi-schen notleidend werdenden sozialen Sicherungsnetzen hin und herge-schoben werden, statt in einer besonderen Anstrengung diese Siche-rungssystems durch Reform zukunftssicher zu machen.

Wenn das die Art ist, wie die Weltgemeinschaft an den Stabilitätspakt und den Wiederaufbau des Kosovo geht, werden die notwendigen Botschaften des Umdenkens, die nach vier Kriegen in Südosteuropa überfällig sind, ausbleiben. Es kann nicht darum gehen, die dünne Decke präventiver, stabilitätsorientierter Entwicklungspolitik ein Stückchen in Richtung Balkan herüberzuziehen, um dabei anderswo Blößen zu schaffen. Meldet sich nicht bereits Lateinamerika als krisen- und bürgerkriegsbegleitete Problemregion zurück? Versteht niemand die Signale ständig zunehmender Kriegshandlungen in Afrika? Verwechselt etwa jemand den in letzter Minute erreichten Stopp des großen Krieges zwischen Indien und Pakistan mit einer stabilen Lage im asiatischen Sub-kontinent?

Der "Stabilitätspakt für Südosteuropa" ist eine Chance zu beweisen, daß die Weltgemeinschaft die richtigen Schlüsse und Lehren aus dem Kosovo-Krieg zu ziehen bereit ist. Wenn es jetzt nicht gelingt, auf präventive und langfristig stabilisierende Politikstrategien umzusteuern, kann man die bedauernden Kommentare für die nächste Militärintervention jetzt schon auf Vorrat verfassen. Um nach dem militärischen Erfolg den Frieden zu gewinnen, reichen ordentliche Anstrengungen nicht aus: Es müssen außerordentliche sein! Die Europäische Union hat die Chance, durch eine eigene außerordentliche und überzeugende Anstrengung beim Stabilitätspakt die künftige Weltordnung auf einen verläßlicheren, die Zukunft besser absichernden Kurs zu bringen. Sie darf diese Chance nicht verpassen.