Kampf gegen den Terrorismus und Lage in Afghanistan

Liebe Genossinnen!
Liebe Genossen!

Wie verabredet möchten wir Euch vor Beginn der zweiwöchigen Herbst-Sitzungspause noch einige Informationen zum Thema Terrorismusbekämpfung und Lage in Afghanistan an die Hand geben. Wir hoffen, dass Euch diese Ausführungen und das angefügte Material auch bei der Beantwortung von Fragen aus den Wahlkreisen helfen.

I. Stichworte aus der aktuellen öffentlichen Diskussion

1. Militärische Anforderungen aus den USA

· Die amerikanische Regierung hat noch keine konkreten Anforderungen zur militärischen Unterstützung an die Bundesregierung gestellt.
· Es gibt Erörterungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesregierung über militärische Fähigkeiten, die Deutschland bei dem gemeinsamen Kampf gegen den internationalen Terrorismus zur Verfügung stellen kann. Daraus können jene konkretisierte operative Anforderungen entstehen, die bisher noch nicht vorliegen.
· Es ist ein unerhörter Vorgang, dass der Kollege Michael Glos (CSU) aus einer streng vertraulichen Unterrichtung des Bundeskanzlers zu diesen Sondierungen Einzelheiten in der Öffentlichkeit ausgeplaudert und dadurch zu einer flächendeckenden Verunsicherung beigetragen hat.
· Es bleibt natürlich bei dem Hilfsangebot der Bundesregierung an die Vereinigten Staaten, das militärische Mittel einschließt. Was im Einzelnen getan wird, ist und bleibt die souveräne Entscheidung der Bundesrepublik.
· Wenn eine konkretisierte Anforderung vorliegt, wird die Fraktion umgehend unterrichtet, und gegebenenfalls muss der Bundestag entscheiden. Berücksichtigt man die Tatsache, dass eine solche Anforderung erst eintreffen muss, dass sie dann geprüft werden muss und noch Bereitstellungszeiten hinzu kommen, dann scheidet eine Beschlussfassung des Bundestages in den nächsten beiden Wochen aus.
· Wir bitten Euch nachdrücklich, unter diesen Umständen nicht auf spekulative Fragen einzugehen nach dem Motto "Wie würden Sie denn entscheiden, wenn ....." etc.!

2. Forderung nach Unterbrechung der Luftangriffe zur Versorgung der Zivilbevölkerung

· Nach 20 Jahren Bürgerkrieg, nach der jahrelangen Herrschaft eines Regimes, das die Bevölkerung ausplündert und an ihrer tradierten Wirtschaftsweise hindert, und nach drei Jahren einer katastrophalen Dürre sind - lange vor dem 11. September - mehr als fünf Millionen Afghanen aus dem Land geflohen und sind fast ein Drittel der verbleibenden Bevölkerung von internationaler Hilfe abhängig geworden.
· Bei der jetzt notwendigen humanitären Hilfe, bei deren Organisation Deutschland eine führende Rolle übernommen hat, fehlt es zur Zeit nicht an Finanzmitteln. Hauptproblem ist der Zugang zu den Bedürftigen, der durch geschlossene Landesgrenzen (Pakistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan) oder durch Maßnahmen der Taliban behindert wird. Zunehmend plündern oder berauben Taliban-Einheiten Einrichtungen der Hilfsorganisationen, Lager und Hilfskonvois. Trotzdem gibt es noch Vorratslager der Hilfsorganisationen in Afghanistan selbst und in den Nachbarstaaten sowie funktionierende Kanäle, um die Hilfsgüter zu den Bedürftigen zu bringen.
· Aus diesem Grunde glauben zahlreiche Beobachter vor Ort, dass eine gesicherte Versorgung von bis zu sieben Millionen entwurzelter oder bedürftiger Menschen nur mehr möglich sein wird, wenn es gelingt, die Herrschaft der Taliban zu brechen. Eine Unterbrechung des militärischen Drucks auf die Taliban würde insofern nicht nur Bin Ladens Terrornetz El Kaida neue, gefährliche Handlungsmöglichkeiten eröffnen, sondern könnte sich sogar als kontraproduktiv im Sinne der humanitären Hilfe für die Zivilbevölkerung erweisen.
· Frau Robinson von den Vereinten Nationen, die zunächst für einen sofortigen Stopp der Luftangriffe plädierte, hat nicht zuletzt aus diesen Gründen ihre diesbezügliche Auffassung inzwischen deutlich abgeschwächt.
· Wegen des nahenden Winters bleibt den Amerikanern wenig Zeit für die in der zweiten Phase ihrer Operationen vorgesehenen Einsätze von bodengestützen Einheiten, ohne die eine tatsächliche Ergreifung der mutmaßlichen Terroristen nicht möglich erscheint. Aber erst diese Einsätze können garantierte Zugänge zu den Hilfsbedürftigen (sog. "humanitäre Korridore" etc.) schaffen und damit das Leben der zahlreichen Flüchtlinge im Innern des Landes retten. Auch insofern lässt sich die Forderung nach einem Stopp der Luftangriffe, wenn diese Unterbrechung die vorgesehenen bodengestützen Operationen verzögert, auch in humanitärer Hinsicht kaum rechtfertigen.
· Vor diesem Hintergrund möchten wir Euch dringend bitten, sich nicht an der Debatte Stopp der Luftangriffe zu beteiligen: Das Beispiel der Grünen zeigt, dass dies eben wegen der sich widerstreitenden Argumente, was die Rahmenbedingungen für eine funktionierende humanitäre Hilfe angeht, nur zu einem internen Hick-Hack bis hin zur Handlungsunfähigkeit führen kann.

II. Das politische Profil von Bundesregierung und SPD beim Kampf gegen den Terrorismus

Es ist irreführend, wenn in der öffentlichen Diskussion der Eindruck erweckt wird, es gehe im Moment nur um die Frage der militärischen Reaktionen auf die Terroranschläge und der deutschen Beteiligung daran. In Wirklichkeit unterstützt die SPD-Bundestagsfraktion den Bundeskanzler und die ganze Bundesregierung dabei, jetzt wichtige politische, diplomatische und soziale Aufgaben im Kampf gegen den Terrorismus zu übernehmen. Im Bereich der internationalen Politik sind das vor allem folgende:

1. Die Organisation der Humanitären Hilfe für die Zivilbevölkerung in Afghanistan

Deutschland hat, auch mit seiner Präsidentschaft in der "Afghanistan Support Group", in diesen Wochen die Führungsrolle bei der Organisation der Humanitären Hilfe für Afghanistan übernommen.
· Die Bundesregierung hat mit einer Aufstockung ihrer Hilfsprogramme um 51 Mio. DM ein Beispiel gegeben, das die Bereitstellung zusätzlicher Mittel im EU-Rahmen und in mehreren anderen Ländern mit angestoßen hat.
· Ein Beispiel, was wir mit diesen Mitteln bewirken können: Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanziert über den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) mit 9,5 Mio. DM Projekte zur Verbesserung der humanitären Lage von etwa 425.000 Flüchtlingen in Pakistan und 80.000 Flüchtlingen im Iran. Insgesamt stellt das BMZ 28 Mio. DM für Nahrungsmittel-, Not und Flüchtlingshilfe zur Verfügung.
· Bei den aktuellen Reisen des Außenministers (in diesen Tagen u.a. nach Pakistan, Tadschikistan und Iran) stehen die praktischen Fragen der Humanitären Hilfe im Mittelpunkt der Gespräche.
· In der Anlage findet Ihr zu diesem Thema einige faktenreiche Ausführungen. Es macht Sinn, diese aktuelle Priorität der deutschen Politik, die unsere volle Unterstützung fordert, auch öffentlich zu kommunizieren!

2. Vorbereitung für eine bessere Zukunft von Afghanistan

· Das Taliban-Regime deckt nicht nur das weltweit operierende Terroristen-Netz des Osama Bin Laden, es hat auch die ökonomischen, sozialen und politischen Lebensgrundlagen der eigenen Bevölkerung so massiv zerstört, dass Millionen von Menschen auf die Hilfe von außen angewiesen sind. Zur Beendigung dieses Regimes gibt es aus den beiden genannten Gründen keine Alternative. Man wird aber nur dann genügend Mitstreiter für einen Neuanfang finden, wenn die politischen Angebote für den Übergang zu einer Post-Taliban-Ordnung als fair und überzeugend wahrgenommen werden.
· Wir unterstützen die Bemühungen der Bundesregierung, bei diesem entscheidenden Prozess mit hohem Profil, aber zurückhaltender öffentlicher Selbstdarstellung mitzuwirken.
· Ein richtiger politischer Ansatz ist es aus unserer Sicht, dass dabei nicht eine kurzfristige Ablösung der Taliban durch eine beliebige Alternative, sondern eine nachhaltige politische Stabilisierung Afghanistans angestrebt wird. Eine vernünftige Etappe kann dabei die Einberufung eines "Obersten Rates" aus allen politischen und ethnischen Gruppen sein, einschließlich der im Exil lebenden Gruppen, des Ex-Königs und der gemäßigten Paschtunen. Wir unterstützen ausdrücklich amerikanische Vorschläge, in eine künftige gesamtafghanische Regierung auch Vertreter des nichtradikalen Taliban-Flügels einzubeziehen. Weitere Etappen könnten die Einberufung der "Loya Jirga" und die Einleitung eines Verfassungsprozesses sein.
· Für die Übergangszeit plädieren wir für eine Schutzfunktion der Vereinten Nationen, ohne dass dabei der Selbstbestimmungscharakter des politischen Neuanfangs infrage gestellt werden darf.
· Westliche Hilfe scheint uns besonders gefragt bei den Aufgaben des ökonomischen Wiederaufbaus, dessen Ziel es sein muss, eine wirtschaftliche Unabhängigkeit der Bevölkerung von der Produktion und dem Handel mit Drogen und von anderen illegalen Erwerbsquellen zu erreichen.
· Wenn es darum geht, Afghanistan wieder zu einem Land zu machen, von dem weder Bedrohungen für seine Nachbarn noch für die Weltgesellschaft ausgehen, dann können dabei europäische Erfahrungen aus den Integrations- und Stabilisierungsstrategien der letzten Jahre nutzbar gemacht werden. Aber auch da darf an keiner Stelle der Eindruck entstehen, dass eine Ordnung von außen aufoktroyiert werden soll.
· Der Post-Taliban-Prozess bietet die Chance, die konstruktiven Teile des Antiterrorkampfes in den Vordergrund zu stellen, statt alle Scheinwerfer immer nur auf die allerdings unvermeidliche Anwendung von Zwangsmitteln gegen die Terrornetze und ihre Schützer zu richten. Wir haben die Chance, in der öffentlichen Diskussion stärker auf unser eigenes Engagement bei dieser Zukunftsarbeit hinzuweisen.

III. Das Ringen um die Rettung des Nahost-Friedensprozesses

· Die Menschen in Israel und in den palästinensisch verwalteten Gebieten, die auf eine friedliche Lösung des Konflikts hoffen, schauen immer hoffnungsvoller auf europäische Anstöße zu einer Wiederaufnahme des Friedensprozesses.
· Der Frieden im Nahen Osten ist ein Ziel ganz für sich selbst. Seitdem wir aber die Agitation der Bin-Laden-Gruppe kennen, wissen wir auch: Eine nachhaltige und faire Friedenslösung im Nahen Osten wird die Rekrutierungschancen für die Terrornetze verringern.
· Die Bundesregierung bemüht sich, für diesen von uns allen gewünschten Friedensprozess einen eigenen Beitrag zu leisten. Joschka Fischer besucht in diesen Tagen erneut Saudi-Arabien, Israel und die palästinensischen Autonomiegebiete. Eine solche Handreichung kann verständlicherweise nicht auf politische Details dieser diplomatischen Bemühungen eingehen. Aber die Bundestagsfraktion unterstützt nachdrücklich diese Bemühungen, und wir sind gut beraten, auch in der Öffentlichkeit zu verdeutlichen: Alles, was hier sichtbar und hinter verschlossenen Türen versucht wird, hat zum Ziel, weniger Hass, Spannung und Bereitschaft zu terroristischer Gewalt entstehen zu lassen.
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Um dem Terrorismus weltweit und nachhaltig den Nährboden zu entziehen, brauchen wir eine gerechtere Weltordnung, die wir mit konsequenten Schritten erreichen können. Ziel der Bundesregierung ist ein "global deal", ein Bündnis für globale Gerechtigkeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Das BMZ hat ein Konzept zur Terrorismusprävention entwickelt, das gezielt demokratische Staaten unterstützt, damit das Gewaltmonopol in den demokratisch legitimierten, staatlichen Strukturen gehalten werden kann. Mit einem Bonussystem - wie es Gerhard Schröder beschrieben hat - wollen wir diejenigen Länder verstärkt unterstützen, die das friedliche Zusammenleben verschiedener Ethnien und Religionen innerhalb ihrer Gesellschaft und ihrer Region ausdrücklich fördern und sich in der Terrorismusbekämpfung besonders engagieren. Für diese Maßnahmen wird die Bundesregierung aus ihrem Anti-Terror-Paket mindestens 200 Mio. DM zusätzlich zur Verfügung stellen.

Wir finden, dass man diese Grundlinien und Prioritäten unserer internationalen Politik, was das gegenwärtige Zentralthema Terrorismusbekämpfung angeht, auch in komplizierten Diskussionslagen offensiv und mit gutem Gewissen vertreten kann.

Wir hoffen, dass Euch diese stichwortartigen Hinweise von Nutzen sind, und verbleiben

mit freundlichen Grüßen

gez. Dr. Peter Struck gez. Gernot Erler