Afghanistan: Die Chancen des Petersberg-Abkommens müssen genutzt werden

Zum Abschluss der neuntägigen Verhandlungen auf dem Petersberg bei Bonn über die Neuordnung Afghanistans erklären der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler, und der außenpolitische Sprecher, Prof. Gert Weisskirchen:

Der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen auf dem Bonner Petersberg über die Neuordnung Afghanistans gibt Anlass zu Hoffnung. Alle beteiligten Verhandlungspartner haben Zugeständnisse machen müssen und damit unter Beweis gestellt, dass sie an einem ernsthaften Neubeginn und einer Beendigung des jahrzehntelangen Bürgerkriegs interessiert sind.

Das erzielte Ergebnis ist zugleich auch eine Auszeichnung für die Vereinten Nationen und ihren Sonderbeauftragten Brahimi, der mit der notwendigen Entschlossenheit die Verhandlungspartner immer wieder zu Kompromissen genötigt hat.

Die Erwartungen und Hoffnungen in die Übergangsregierung sind groß - vielleicht zu groß. Die jetzt getroffenen Vereinbarungen bieten eine vermutlich einmalige Gelegenheit, das Land aus den Fallstricken des Bürgerkriegs zu befreien und den Menschen wieder eine Perspektive anzubieten. Dazu sind jedoch weitere Schritte erforderlich:

Es wäre eine Illusion anzunehmen, dass sich in Afghanistan auf Anhieb ein selbst tragender Friedensprozess entwickelt. Es gibt zu viele Gruppen, die ein Eigeninteresse an einer anhaltenden Destabilisierung des Landes haben. Die politische Belastbarkeit des Abkommens muss sich in den nächsten Wochen und Monaten erst noch erweisen. Einigen Mitspielern in Afghanistan muss noch deutlicher gemacht werden, dass die Machtspiele der Vergangenheit zu Lasten der auf dem Petersberg getroffenen Vereinbarungen kritische Reaktionen der internationalen Gemeinschaft zur Folge haben würden. Die Bundesregierung und die internationale Gebergemeinschaft werden die Erfahrungen, die sie in Bosnien mit unkonditionierter Hilfe gemacht haben, nicht vergessen und allen afghanischen Führern klar vor Augen führen, dass die angekündigte Hilfe für den Wiederaufbau des Landes nur dann gewährt werden kann, wenn die politischen Erwartungen erfüllt werden. Dazu gehören die strikte Einhaltung der Menschenrechte, die substanzielle Beteiligung der Frauen an der politischen Macht und die Anerkennung einer legitimen Zentralgewalt, die in der Übergangsphase mit internationaler Hilfe für Recht und Ordnung sorgt.

Die Einsetzung einer multinationalen Friedenstruppe, die den friedlichen Wiederaufbau des Landes absichert, ist ein Gebot der Stunde. Die Einzelheiten eines solchen Einsatzes müssen mit der Übergangsregierung abgestimmt werden. Eine Beteiligung der Bundeswehr an einem mit UN-Mandat ausgestatteten Friedenseinsatz ist durchaus vorstellbar.

Die humanitäre Situation ist nach wie vor katastrophal. Es geht jetzt darum, dass Hunderttausenden von Menschen über den bereits begonnenen Winter geholfen wird. Dazu müssen die auch von Deutschland bereitgestellten Mittel so schnell wie möglich abfließen.

Es besteht kein Zweifel: Die Verantwortung für eine friedliche, freiheitliche, stabile und demokratische Entwicklung liegt in erster Linie bei den Afghanen selbst. Doch sie werden noch auf lange Zeit auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angewiesen sein, um einen Rückfall in die Barbarei zu verhindern.

5. Dezember 2001