Interview mit Gernot Erler zum EU-Erweiterungsprozess für Deutsche Welle, 01/2006

Interview mit Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt, zum EU-Erweiterungsprozess

DW: Herr Erler, im Oktober, November vorigen Jahres empfahl die Europäische Kommission, alle Länder des westlichen Balkans und die Türkei auf eine höhere Stufe im EU-Annäherungsprozess zu heben. Besteht nicht die Gefahr, dass damit die schon existierende Erweiterungsmüdigkeit unter der EU-Bevölkerung noch erhöht wird?

G.E.: Die Frage der europäischen Integrationspolitik ist keine Frage der Verteilung von Wohltaten an irgendjemanden, sondern das ist eine verabredete europäische Strategie, die auch vor dem Hintergrund der schrecklichen Kriege auf dem Balkan in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts stattfindet und die letzten Endes das Ziel einer stabilen und friedlichen Entwicklung in Südosteuropa hat. Insofern ist das nicht beliebig veränderbar, sondern eine verlässliche politische Größenordnung.

DW: Also, der letzte Monitoring Bericht der EU-Kommission über Bulgarien und Rumänien fiel eher negativ aus. Dazu kam ein inoffizieller Bericht über die Verknüpfung zwischen der Mafia und der Macht in Bulgarien. Die Länder befürchten nun, dass ihre EU-Mitgliedschaft um ein Jahr auf 2008 verschoben wird. Wie ist die deutsche Haltung gegenüber einer möglichen Verschiebung?

G.E.: Aus Deutschland beobachten wir, dass beide Länder im Augenblick wirklich große Anstrengungen übernehmen, um die letzten Wochen jetzt noch zu nutzen vor dem abschließenden Screening-Bericht, um ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den Forderungen zu erreichen. Entscheidend für Deutschland wird aber letztlich der Bericht der Kommission, der für den 17. Mai vorgesehen ist, sein. Danach wird erst in Deutschland entschieden, wie das aus unserer Sicht mit dem Beitrittsdatum zu sein hat, und wir werden da sicher der Empfehlung der Kommission folgen.

DW: Das heißt auch, die Ratifizierung im Bundestag wird nicht vor diesem 17. Mai stattfinden?

G.E.: Das wäre in der Tat schwierig, mit diesem Prozess vor diesem Datum zu beginnen. Ich weiß, dass sich hier die deutsche Politik zum Teil unterscheidet von der von anderen europäischen Staaten, aber es gibt eine wirklich verlässliche Chance, dass wir trotzdem bis zum Ende des Jahres den Ratifizierungsprozess, der in Deutschland kompliziert ist, weil auch der Bundesrat sich daran beteiligen muss, abgeschlossen haben werden.

DW: Die letzte schlechte Nachricht aus der Region war die Behauptung über geheime CIA-Gefängnisse in Bulgarien, Rumänien, Makedonien und Kosovo. Die Länder dementieren, der Europarat ermittelt, der Justizkommissar droht mit Konsequenzen. Wie ist die deutsche Position dazu, angesichts der Vorwürfe, dass auch Deutschland Informationen benutzt habe, die durch Verhöre im Ausland gewonnen worden seien?

G.E.: Man muss, glaube ich, hier feststellen, dass es bisher keine wirklich belastbaren Erkenntnisse gibt. Bisher liegen uns nur Presseberichte und andere Berichte vor. Aber keine wirklichen Beweise. Wir haben außerdem das Dementi von der amerikanischen Seite, was die Existenz von diesen sogenannten Black Sites angeht, und wir haben ja auch entsprechende Erklärungen aus den genannten Ländern hier, die das ebenfalls in Abrede stellen. Und dazu kommt, dass die Untersuchung von dem Schweizer Marty auch zu keinen verwertbaren Ergebnissen geführt hat. Solange das so ist, macht es keinen Sinn, sich sozusagen spekulativ damit zu beschäftigen, was wäre, wenn wir andere belastbare Daten hätten.

DW: 2006 wird ein entscheidendes Jahr für die Balkanländer. Was müsste mindestens erreicht werden, damit unter dem deutschen EU-Ratsvorsitz im ersten Halbjahr 2007 die in Thessaloniki versprochenen EU-Perspektiven für diese Länder näher rückt?

G.E.: Zunächst einmal möchte ich sagen, ich finde es sehr erfreulich, dass die österreichische Präsidentschaft für das erste Halbjahr 2006 sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt hat, Fortschritte in Südosteuropa, auf dem Balkan, zu erreichen - so dass eine gute Chance besteht, dass viele der Themen dann schon weiter gediehen sind, wenn es Anfang 2007 zu der deutschen Präsidentschaft kommt. Auf jeden Fall muss das ja der Fall sein für die Statusverhandlungen, weil  hier ein Zeitrahmen vorgegeben ist, was Kosovo angeht. Und auf jeden Fall werden wir auch mehr Aufschluss haben über die Zukunft von Serbien-Montenegro. Und ich denke, dass auch - und das ist der dritte große, wichtige Bereich - diese Verfassungsdiskussion und diese praktisch Reform an den Institutionen in Bosnien-Herzegowina weiter fortgeschritten ist. Mein persönlicher Ehrgeiz wäre eigentlich, dass das Thema Bulgarien, Rumänien schon erledigt ist, wenn die deutsche Ratspräsidentschaft beginnt. Ich hoffe da auf das Datum 1. 1. 2007. So dass dann immer noch genügend bleibt für ein deutsches Engagement.