"Friedenspolitik ist mein Lebensthema"

Interview in der BZ, 16. September 2017

Gernot Erler, der nach 30 Jahren im Bundestag aufhört, schaut zurück – und sorgt sich um Europas Verhältnis zu Russland.

FREIBURG. 30 Jahre lang war Gernot Erler Mitglied des Deutschen Bundestags. Der Freiburger SPD-Politiker zählt zu den erfahrensten und kompetentesten Außenpolitikern des Parlaments. Jetzt scheidet der 73-Jährige auf eigenen Wunsch aus. Die Friedenspolitik, vor allem das Verhältnis zu Russland und Osteuropa, war sein Lebensthema und wird es bleiben. Mit ihm unterhielten sich Thomas Fricker, Dietmar Ostermann und Karl-Heinz Fesenmeier.

BZ: Herr Erler, was werden Sie am Abend des 24. September tun?
Erler: Nach der SWR-Wahlparty, für die ich zugesagt habe, werde ich ins E-Werk gehen, wo sich die Sozialdemokraten treffen. Und dann wird das Ende des Wahlkampfs auf jeden Fall gefeiert – unabhängig vom Ergebnis. (lacht)

BZ: Im Moment sieht es ja nicht so gut aus für die SPD...
Erler: Ich bin immer noch optimistisch, dass sich in der verbleibenden Zeit etwas ändern kann.

BZ: Wie geht es Ihnen persönlich damit, nach so langer Zeit nicht mehr im Bundestag zu sein?
Erler: Nach 50 Berufsjahren und 30 Jahren als Abgeordneter war es die richtige Entscheidung, jetzt aufzuhören. Dennoch fällt es mir schwer, das gebe ich zu. Das Schwierigste ist die Trennung von den Mitarbeitern. Ich habe praktisch nur persönliche Freunde in meinen Büros. Das sind Leute, mit denen ich teils seit Jahrzehnten zusammengearbeitet habe.

BZ: An welche Ereignisse in diesen 30 Jahren haben Sie besondere Erinnerungen?
Erler: Da denke ich natürlich vor allem an die großen Ereignisse. Als nach der langen Kohl-Ära 1998 Wolfgang Thierse auf dem Stuhl des Bundestagspräsidenten und Gerhard Schröder auf dem des Bundeskanzlers Platz nahmen, war das schon ein bewegender Moment. Für mich war der Machtwechsel verbunden mit der Übernahme der Position des stellvertretenden Fraktionschefs, zuständig für die internationale Politik. Ich erinnere mich an all das, was wir uns vorgenommen hatten, doch dann kamen gleich die großen Herausforderungen in der Außenpolitik.

BZ: Der Balkan- und Kosovokrieg
Erler: Ja, ich besinne mich noch, als ich 1998 wie jedes Jahr in den USA war, weil ich zuständig war für Abrüstung und Rüstungskontrolle. Aber die Amerikaner hatten nur eine Frage: Wer ist Joschka Fischer und was kommt da auf uns zu?

BZ: Im Oktober 1998 kam es in der Kosovo-Politik zum Nato-Ultimatum...
Erler: Wir wussten, dass das zum Krieg führen konnte. Darüber gab es ganz harte Auseinandersetzungen, nicht nur bei den Grünen, sondern auch in meiner Partei. Da war es meine nicht ganz dankbare Aufgabe, den Laden zusammenzuhalten.

BZ: Und dann ging es ja gleich weiter.
Erler: Ja, 2001 waren die Terroranschläge vom 11. September. Aus heutiger Sicht finde ich es erstaunlich, wie klarsichtig wir damals die Lage sahen und was es bedeutete, auf eine neue und noch unbekannte Herausforderung nur eine Antwort zu haben, nämlich Krieg. Das war nämlich die amerikanische Reaktion. Doch wir wussten schon damals, dass es das nicht sein kann. Und das setzte sich 2002 fort, als Amerika den nächsten Krieg nach Afghanistan vorbereitete, den gegen den Irak 2003. Wieder hatten wir viele Diskussionen, die dann zu Schröders berühmtem "Nein" zum Irakkrieg führten.

BZ: Führte Sie die Haltung der Bundesregierung in persönliche Konflikte?
Erler: Ich hatte immer den Anspruch, zur Friedensbewegung zu gehören, aus der ich ja gekommen bin. Ich war zum Beispiel von Anfang an in der Freiburger Friedenswoche aktiv. Aber ich hatte auch den Anspruch, die Haltung der Bundesregierung zu vertreten. Von manchen, gerade aus meinem Freiburger Umfeld der Friedensbewegung, wurde ich für diese Haltung in die Ecke gestellt. Das ging bis in den privaten Bereich. Aber auch die öffentlichen Diskussionen wurden hart geführt. Da musste man schon viele Schläge einstecken. Dabei war ich zum Glück in meinen vier Themen Außen-, Sicherheits-, Menschenrechts- und Entwicklungspolitik nie in der Position, etwas vertreten zu müssen, hinter dem ich nicht stehen konnte.

BZ: Aktuell sind Sie ja der Russland-Beauftragte der Bundesregierung. Wie kam es dazu?
Erler: Die Stelle ist auf mein Betreiben hin 2003 vom damaligen Außenminister Joschka Fischer eingerichtet worden. Wir wollten damit auch ein Zeichen setzen. Friedenspolitik, vor allem das Verhältnis zu Russland und Osteuropa, ist ja mein Lebensthema. Das hat auch mit dem Tod meines Vaters zu tun, der in den letzten Wochen des Krieges an der Ostfront fiel. Da war ich noch nicht einmal ein Jahr alt.

BZ: Sie sprechen Russisch, waren an der Uni Freiburg am Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte tätig, gelten als exzellenter Kenner Osteuropas. Wie kann man sich Ihre Tätigkeit als Regierungsbeauftragter vorstellen?
Erler: Ich konzentriere mich bei der Tätigkeit auf die zivilgesellschaftlichen Aufgaben. Mein Aufgabengebiet umfasst nicht nur Russland, sondern alle zwölf postsowjetische Staaten bis nach Kasachstan oder Turkmenistan. Kurz nach der Bundestagswahl werde ich in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku fahren. Ich pflege in diesen Ländern Kontakte zu Parlamentariern und Nichtregierungsorganisationen und bin auch automatisch Vorsitzender des zivilgesellschaftlichen Bereichs des Petersburger Dialogs. Mein russisches Pendant gehört zu Putins Beraterstab.

BZ: Trotz aller Bemühungen sind die Beziehungen zu Russland heute schlecht. Was ist da schiefgelaufen?
Erler: Da gab es über mehrere Jahre eine Fehlwahrnehmung. Nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 entstand viel Hoffnung auf ein gutes Verhältnis. Es gab große Programme zu einer strategischen Partnerschaft zwischen der EU und Russland, es gab Konsultationen und Gipfeltreffen sowie eine starke wirtschaftliche Verflechtung. Alles basierte auf einem Vertrauen in eine gute Zukunft. Doch dann hörten wir im Februar 2007 die Wutrede des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der Sicherheitskonferenz in München. Die westliche Politik ist in Russland offenbar sehr negativ wahrgenommen worden, was man im Westen unterschätzt hat. Bis man schließlich 2014 im Ukraine-Konflikt an eine rote Linie geraten war, die Moskau gezogen hatte. Da ging man von russischer Seite aus voll in die Konfliktbereitschaft. Seither läuft vieles in die falsche Richtung.

BZ: In welchen Bereichen zeigt sich die falsche Richtung?
Erler: Das zeigt sich allein schon im militärischen Bereich. So müssen wir leider wieder Aufrüstungsprozesse konstatieren und Großmanöver. Oder, was man in der Öffentlichkeit groß gar nicht zur Kenntnis nimmt, ist, dass allein im letzten Jahr 780-mal Nato-Abfangjäger aufgestiegen sind, um russische Militärflüge zu orten. Das sind nur zwei Beispiele. Insgesamt betrachtet befinden wir uns in einem Entfremdungsprozess, den wir in seiner Dynamik unterschätzt haben.

BZ: Welche Fehler wurden gemacht?
Erler: Amerika hat Russland in den Augen Moskaus die Gleichrangigkeit als Großmacht verweigert. Dazu hat auch die zügige Osterweiterung der Nato beitragen – obwohl Russland ja eine freie Bündniswahl der osteuropäischen Länder anerkannt hatte. Da hat man die damit verbundenen Ängste in Moskau unterschätzt. Das Verhältnis zu Russland war im Westen von einem Optimismus überdeckt, der nicht mehr begründet war. Man hat die Instrumente nicht so genutzt, dass Vertrauen gebildet worden wäre. Doch jetzt müssen wir das Vertrauen wieder aufbauen. Das halte ich für alternativlos, denn das Verhältnis ist nachhaltig gestört.

BZ: Was hat man noch übersehen?
Erler: Die Wirkung des "regime change" in osteuropäischen Ländern, des Wechsels von Moskau-orientierten autokratischen Regimen hin zu Demokratien. In Moskau gab es den Vorwurf an den Westen, vor allem an die USA, aktiv mitgeholfen zu haben, die Staaten von Moskau zu entfremden. Das ist auch nicht hundertprozentig widerlegbar. Georgien ist so ein Beispiel. Den Höhepunkt bilden jedenfalls die Proteste auf dem Maidan, die Demokratie und Westorientierung für die Ukraine forderten und in Moskau als gegen Russland gerichtet interpretiert wurden.

BZ: Und jetzt? Wie kann sich das Verhältnis zu Russland bessern?
Erler: Jetzt hängt alles vom Minsker Abkommen ab. Was etwas Hoffnung macht, ist die jüngste Ankündigung Moskaus, UN-Blauhelme in der Ukraine zuzulassen.

BZ: Herr Erler, Sie sind mit der Problematik sehr gut vertraut und haben zahlreiche Kontakte nach Osteuropa. Würden Sie denn die Aufgabe als Russland-Beauftragter nach der Bundestagswahl gerne weitermachen?
Erler: Das würde ich schon tun. Mitglied des Bundestags müsste ich dafür zumindest nicht sein. Und rein theoretisch (lächelt) müsste die SPD auch nicht an der Regierung beteiligt sein. Man wird sehen.

BZ: Was wird sich für Sie ändern, wenn Sie nicht mehr im Bundestag sind? Wo wird Ihr Lebensmittelpunkt sein?
Erler: Der Lebensmittelpunkt wird in jedem Fall Freiburg sein. Aber natürlich werde ich mich nach wie vor öfter in Berlin aufhalten, unabhängig davon, ob ich Russland-Beauftragter bleibe. Ich werde so oder so weiterhin Aufgaben wahrnehmen, mich etwa um Stiftungen kümmern. Ohnehin werde ich noch bis Ende des Jahres Deutschlands Sonderbeauftragter für die OSZE sein.

BZ: Gibt es etwas, was Sie nun endlich tun wollen und wofür Sie bisher einfach keine Zeit hatten?
Erler: Nein, denn ich hatte in meinem Leben ja das Glück, mich um diese mir wichtigen Themen, um meine Lebensthemen, kümmern zu können. Das werde ich auch weiterhin tun.

BZ: Herr Erler, gibt es einen politischen Vorgang, bei dem Sie als Einzelner ganz viel bewirkt haben?
Erler: Ja, im Februar 2008. Frank-Walter Steinmeier, dessen Staatsminister im Auswärtigen Amt ich damals war, rief mich an und sagte: "Du bist doch unser Spezialist für Große Koalitionen?" Kofi Annan, der ehemalige UN-Generalsekretär, habe ihn, Steinmeier, angerufen. Annan, der gerade in Kenia in einer blutigen Auseinandersetzung zwischen den Erzrivalen Kenyatta und Odinga vermittelte, bat Steinmeier, einen deutschen Politiker zu schicken, der den Widersachern erklärt, wie eine große Koalition funktioniert. Ja, da flog ich dann hin. Wir haben uns auf einem entlegenen Touristenresort getroffen und ich habe vermittelt.

BZ: Und? Mit Erfolg?
Erler (lacht): Ja, offenbar. Die beschlossene große Koalition hielt acht Jahre. Kofi Annan hat mich sogar in seinen Memoiren erwähnt, worauf ich schon ein bisschen stolz bin. (lächelt)

BZ: Und als Abgeordneter?
Erler: Da gibt es eine ganz lustige Geschichte. Im Januar 2001 hat die CDU eine Bundestagsdebatte über Joschka Fischer angezettelt, bei der es um seine Vergangenheit als Steinewerfer ging. Ich habe eine ganz kurze Rede gehalten, so fünf Minuten vielleicht. Ich habe von der Anti-Akw-Bewegung von Wyhl erzählt und vom bedrohlichen Verhalten der Polizei damals gegenüber ganz normalen Bürgern. Jedenfalls ist es mir gelungen, die Stimmung im Bundestag komplett umzudrehen. Alle Grünen sind danach zu mir gekommen und haben mir gratuliert.