Ukraine-Krise: Droht ein neuer Krieg, Herr Erler?
Badische Zeitung, 13. November 2014
Was sagt der Freiburger SPD-Osteuropaexperten Gernot Erler über die erneut wachsende Kriegsgefahr in der Ostukraine und Russlands Sicht auf den Westen? Ein Interview.
BZ: Herr Erler, ist der Waffenstillstand bald endgültig Vergangenheit und droht neuer Krieg?In der Ukraine mehren sich die Anzeichen für eine erneute militärische Eskalation. Die Verstöße gegen das Waffenstillstandsabkommen von Minsk häufen sich, ebenso die Berichte über Waffenlieferungen aus Russland, aber auch über Absichten der Ukraine, gegen die Separatisten im Osten vorzugehen. Thomas Fricker sprach darüber mit dem Osteuropa-Experten und SPD-Bundestagsabgeordneten Gernot Erler.
Erler: Wir haben alle im Augenblick die große Sorge, dass die Ukraine unter Umständen vor einem neuen Waffengang steht und dabei auch eine massive Intervention von russischer Seite erfolgt. Das widerspricht komplett den Vereinbarungen vom 5. September von Minsk mit dem Waffenstillstand, der in zwölf Punkten damals detailliert vereinbart worden ist. Die wichtigsten Punkte sind allerdings schon bisher bedauerlicher Weise nicht umgesetzt worden.
BZ: Wie erklären Sie sich das? Immerhin hat Russlands Außenminister Sergej Lawrow eben wieder erklärt, man wolle den Konflikt friedlich beilegen. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Hinweise, dass Russland vermehrt etwa Panzer in die Ostukraine liefert.
Erler: Es gibt in der Tat eine schockierende Diskrepanz zwischen dem, was unterschrieben worden ist und was vor Ort passiert. Im Hintergrund sehe ich eine Art Aufschaukeln von Bereitschaft, doch noch einmal abseits der diplomatischen Bemühungen die Idee zu verfolgen, den Konflikt militärisch zu lösen. Es gibt ja die Erfahrung vom Juli und August. Damals war nach 4000 Toten, 15 000 Verletzten und der Zerstörung von Städten und Dörfern klar erkennbar, dass es keine vernünftige Alternative zu einer politischen Lösung gibt. Aber offenbar haben beide Seiten Zweifel daran, dass jeweils der andere tatsächlich ernst gemeint hat, was in dem Minsker Abkommen steht.
BZ: Da stellt sich die Frage, wie der Westen auf die Situation darauf reagieren soll – und zwar in Richtung der beiden Konfliktparteien?
Erler: Ich glaube, man muss jetzt wieder versuchen, auf einer höheren Ebene ins Gespräch zu kommen. Wir hatten eben das Apec-Treffen in Peking (Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft; die Red.), wir haben am Wochenende das G-20-Treffen in Australien – das sind gute Gelegenheiten, um vor allem mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu sprechen. Man muss ihn einfach fragen, warum Russland zum Beispiel unterschreibt, dass alles Militärgerät aus der Ostukraine abgezogen wird, dass alle Freiwilligen und alle nicht kenntlich gemachten Truppenformationen abgezogen werden, dass die ukrainisch-russische Grenze unabhängig bewacht wird, dass eine Pufferzone von zweimal 15 Kilometern eingerichtet und international bewacht wird und dann nichts von alledem umgesetzt wird. Allerdings gibt es auch Fragen an die ukrainische Seite. Seriösen Berichten zufolge verstößt auch die ukrainische Armee gegen den Waffenstillstand.
BZ: Falls die Gespräche verpuffen, wird man mit Blick auf Russland dann auch über weitere Sanktionen nachdenken?
Erler: Ich gehe davon aus, dass bei dem Außenministertreffen der EU am kommenden Montag in Brüssel dieses Thema erneut auf der Tagesordnung steht. Ich glaube aber, dass auch hier eine gewisse Ernüchterung eingetreten ist. Die Sanktionen wirken zwar verschlechternd auf die russische Wirtschaftslage, aber es zeigen sich bisher keine unmittelbaren Wirkungen auf die russische Politik. Insofern glaube ich nicht, dass es zu zusätzlichen Wirtschaftssanktionen kommen wird. Es kann allerdings sein, dass sich die Liste derer, die mit Visabann und Kontensperrung versehen sind, noch einmal verlängert – vor allem durch Personen, die für die illegalen sogenannten Republikwahlen in den separatistischen Gebieten verantwortlich sind.
BZ: In Russland selber werden Sanktionen als Strafe empfunden. Zuletzt hat das auch der frühere Präsident der untergegangenen Sowjetunion, Michail Gorbatschow so gesehen. Können Sie dessen Position, der Westen habe Versprechen gebrochen und sei daher schuld an der Konfrontation, nachvollziehen?
Erler: Das Narrativ mit den vielen Vorwürfen an den Westen ist uns seit langem bekannt, spätestens seit der berühmten Wutrede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007. Bisher hatte sich allerdings Michail Gorbatschow diese Vorwürfe nicht zu eigen gemacht. Ich sehe in seinen jüngsten Äußerungen ein Zeichen dafür, wie stark die ganze politische Klasse in Russland in diesen Sog eines nationalen Hypes gezogen worden ist. Es ist ein Hype, der sich vor allem an der Annexion der Krim-Halbinsel orientiert und nun sehr stark auf die vermeintlich mangelnde Sensibilität des Westens abhebt, der russische Interessen aus der Schwäche des Landes heraus missachtet hat. In Wirklichkeit hat es nachweislich eine Politik von Partnerschaft und Vertrauen zwischen dem Westen und Russland gegeben. Sonst hätten wir kein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, sonst hätten wir keine strategische Partnerschaft zwischen der EU und Russland, sonst hätten wir nicht das deutsche Programm einer Modernisierungspartnerschaft, das ab 2010 auch ein europäisches Programm geworden ist, sonst hätten wir keinen Petersburger Dialog und eine wechselseitige Abhängigkeit bei den Energielieferungen.
BZ: Beträchtliche Teile der Öffentlichkeit hierzulande nehmen das anders wahr und ergreifen eher die Partei Russlands. Wie erklären Sie sich das?
Erler: Wissen Sie, im Grunde genommen haben wir zwei Wahrheiten. Dieser Partnerschaftsansatz ist nachweisbar, aber es ist auch nachweisbar, dass es mündliche Zusagen etwa hinsichtlich eines Verzichts auf Nato-Erweiterung gegeben hat. Diese Zusagen sind dann aber nach der Auflösung der Sowjetunion und der damit einhergehenden völlig neuen weltpolitischen Situation nicht umgesetzt worden. Wenn der Westen einen Fehler gemacht hat, dann den, nicht rechtzeitig genug diese zwei Wahrheiten, diese zwei Narrative, zum Ausgangspunkt klärender Gespräche gemacht zu haben, jedenfalls nicht auf einer Führungsebene im Dreieck Russland, Amerika und Europa.
Podiumsdiskussion in Freiburg
"Die Ukraine, Russland und der Westen – zwischen Krieg, Frieden und Sanktionen" lautet der Titel einer Podiumsdiskussion, die im Rahmen der Vortragsreihe des Colloquiums politicum am Dienstag, 18. November stattfindet. Dabei sollen die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine im Mittelpunkt stehen mit Fokus auf die Rolle Russlands sowie die Folgen auch für die deutsche Wirtschaft. Auf dem Podium sind: Gernot Erler, Rainer Lindner, Geschäftsführer Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, Bundesverband der Deutschen Industrie und Andreas Umland, Senior Research Fellow am Institut für euro-atlantische Kooperation und Gastprofessor für Europa-Studien. Beginn: 20 Uhr c. t., Hörsaal 1010, KG I, Platz der Universität 3, in Freiburg.