Kein Bieterwettbewerb mit Russland

Interview Deutschlandfunk, 04. Februar 2014.

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Die Ukraine stehe am Rande eines Staatsbankrotts. Zwar wolle niemand einen Bieterwettbewerb mit Russland, aber Präsident Putin habe bereits umgerechnet elf Milliarden Euro in Aussicht gestellt. Das sei der Rahmen für mögliche Finanzhilfen des Westens. Das Gespräch führte Peter Kapern.

Deutschlandfunk: Vor wenigen Wochen noch haben Europaabgeordnete auch hier in unserer Sendung bedauert, dass die Europäische Union der Ukraine eben nicht milliardenschwere Hilfspakete in Aussicht stellen kann, so wie Russland das tut. Nun plötzlich heißt es, die Europäische Union und die USA wollen gemeinsam ein großes Hilfspaket schnüren, um dem ukrainischen Präsidenten Janukowitsch doch noch eine Annäherung an den Westen schmackhaft zu machen. Vor ein paar Minuten habe ich Gernot Erler, den Regierungskoordinator für die Beziehungen zu Russland und der Ukraine, gefragt, ob der Westen jetzt nach der Leitlinie verfährt, was Putin kann, das können wir auch?

Erler: Es gibt auf jeden Fall hier jetzt eine Konkurrenzsituation. Aber dahinter steckt natürlich der Gedanke, dass die Opposition, die ja um die Macht kämpft in Kiew, eine wirtschaftliche Perspektive braucht, denn für die andere Seite liegt ja das Angebot von Putin vor, 15 Milliarden Dollar zur Verfügung zu stellen, von denen drei Milliarden schon geflossen sind. Der Rest ist vorläufig gesperrt, weil Putin gesagt hat, ich will abwarten, was dabei herauskommt jetzt in Kiew, politisch, und mit wem ich dann überhaupt weiter Kredite tausche. Insofern ist das überhaupt eine notwendige Perspektive, dass der Bevölkerung ein realistischer Weg angeboten werden kann, falls die Opposition die Regierungsmacht übernimmt.

Deutschlandfunk: Aber es ist schon eine Art Wettbieten, das sich der Russland und der Westen um die Ukraine bieten, oder?

Erler: Na ja, Barroso hat gesagt, wir wollen auf keinen Fall einen Bieterwettbewerb haben. Aber ohne dieses Angebot, muss man natürlich sagen, wäre eine Drucksituation da. Je nachdem wie sich die russische Führung verhält, hätte dann die eine Seite in diesem Machtkampf sagen können, wir haben eine Perspektive, wie wir über das nächste oder dieses Jahr hinweg kommen, denn die Ukraine steht ziemlich nahe an einem Staatsbankrott, während die andere Seite da überhaupt keine Antwort darauf hätte, wie es denn finanziell weitergehen sollte. Also es wäre dann ein Ungleichgewicht zu Lasten der Opposition.

Deutschlandfunk: Wie kann man denn, Herr Erler, sicherstellen, dass es am Ende des Tages nicht der ewig lavierende Wiktor Janukowytsch und seine Partei sind, die von diesen Hilfen profitieren? Wie kann man sicherstellen, dass nicht ausgerechnet das Regime in Kiew stabilisiert wird durch dieses Hilfspaket?

Erler: Nein, das ist völlig klar. EU und USA, die im Augenblick dieses Paket schnüren, haben ganz klar gesagt: Der Plan ist, hier kurzfristige Finanzhilfen zu geben für eine Interimsregierung in der Übergangsphase, die sich zu politischen und wirtschaftlichen Reformen verpflichtet und die den Weg frei machen soll für Präsidentschaftswahlen. Das ist ganz eindeutig, was die Adresse angeht: eine Interimsregierung, die natürlich gestellt wird von der Opposition.

Deutschlandfunk: Aber welche Macht hat so eine Regierung im Präsidialsystem der Ukraine?

Erler: Na ja, sie hat zumindest dann eine Perspektive und ist nicht mehr abhängig von Verhandlungen über langfristige Finanzhilfen vom IWF, denn das ist nun wiederum die Erfahrung, die Janukowytsch gemacht hat. Der hat ja bis ins letzte Jahr hinein mit dem IWF verhandelt - übrigens vielleicht nicht ganz zufällig über die gleiche Größenordnung, nämlich 15 Milliarden Dollar -, und das ist daran gescheitert, dass der IWF damit Forderungen verbunden hat. Die wichtigste Forderung dabei war die Anhebung des Gaspreises für die heimische Bevölkerung auf Marktniveau, was bedeutet hätte bis zu 40 Prozent Preiserhöhungen, und das hat Janukowytsch aus Gründen, die man ja auch nachvollziehen kann, wenn er demnächst in den Wahlkampf gehen will, abgelehnt.

Deutschlandfunk: Muss der Westen nicht darauf bestehen, dass es in der Ukraine, bevor Hilfsgelder fließen, eine Verfassungsänderung gibt, die die Macht des Präsidenten beschneidet?

Erler: Diese Verfassungsänderung wird eigentlich von fast allen westlichen Sprechern befürwortet. Dabei geht es um die Rückkehr eigentlich zu der ursprünglichen Verfassung von 2004.

Deutschlandfunk: Aber macht man sie zur Voraussetzung für Hilfsleistungen?

Erler: Das habe ich bisher jedenfalls nicht gehört, dass das eine Condicio sine qua non für diese Kredite ist, sondern da ist nur die Rede davon: Interimsregierung, Übergangsphase, da will man helfen und dann sollen politische, wirtschaftliche Reformen gemacht werden. Das ist ja auch klar, das darf ja kein Fass ohne Boden werden. Und es soll damit auch die Chance gewahrt werden, einen Übergang zu Präsidentschaftswahlen zu schaffen.

Deutschlandfunk: Wie kann man denn sicherstellen, dass nach diesen politischen und wirtschaftlichen Reformen, von denen Sie sprechen, nicht am Ende des Tages, also nach der nächsten Präsidentschaftswahl, der neue Präsident auch wieder der alte ist, weil er die Wahlen gefälscht hat?

Erler: Das kann man bei demokratischen Wahlen nicht sicherstellen, wer da gewinnt. Das halte ich auch nicht für völlig ausgeschlossen, was Sie sagen.

Deutschlandfunk: Kann man denn Wahlfälschungen ausschließen?

Erler: Auch das kann man nicht ausschließen. Aber ich meine, wir sprechen jetzt von einem Politikwechsel hier in der Ukraine. Wir sprechen davon, dass vielleicht sich die verschiedenen Kräfte in Kiew einigen auf eine Übergangsregierung - das halte ich nicht für ausgeschlossen, dass man das kann, die kann ja auch vielleicht gemischt zusammengesetzt sein -, und dass man das dann benutzt, um die nächsten Wahlen vorzubereiten, und dann ist die Gefahr nicht so groß, wobei ich schon sagen muss, dass schon bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2010 man nicht international gesagt hat, dass die komplett gefälscht gewesen sind. Es gibt wenige Leute, die an der demokratischen Legitimation des jetzt gewählten Präsidenten ernsthafte Zweifel haben.

Deutschlandfunk: Das heißt, Sie halten das für möglich, dass sich Viktor Janukowitsch tatsächlich abwählen ließe?

Erler: Ich halte es für wünschenswert, dass er jetzt Verantwortung zeigt nach dieser Situation, wo wir Tote hatten, wo wir erhebliche Opfer hatten, wo das Land am Rande eines Bürgerkrieges steht, dass er diese Verantwortung so versteht, jetzt den Weg frei zu machen für eine Übergangsregelung und dann für eine langfristige politische Lösung, auch wirtschaftliche Lösung für die Ukraine.

Deutschlandfunk: Die Rede, Herr Erler, ist von einem Marshall-Plan für die Ukraine. Das ist ein großes Wort, das in einem großen historischen Kontext steht. Welchen Umfang müssen die Finanzhilfen haben?

Erler: Darüber lassen sich die Beteiligten im Augenblick keine Angaben entlocken, auch auf Rückfragen nicht. Das verstehe ich natürlich auch gut, denn wir brauchen natürlich auch noch eine Art von europäischem Abstimmungsprozess. Irgendjemand muss ja diese Mittel zur Verfügung stellen, selbst wenn sie nicht, sage ich mal, als Geschenk sind, sondern wenn sie letzten Endes in Form von Kreditlinien bestehen. Aber es muss ja auch irgendjemand dafür geradestehen, und das ist sinnvoll, da nicht vorzeitig mit Zahlen zu operieren. Aber eins ist ja klar: Janukowitsch hat mit dem IWF über 15 Milliarden Dollar gesprochen. Janukowitsch hat in der Endphase der Verhandlungen über das Assoziationsabkommen mit der EU 20 Milliarden ins Spiel gebracht, und zwar 20 Milliarden Euro ins Spiel gebracht als das, was die Ukraine braucht, um sich wirtschaftlich zu stabilisieren, und Putin hat 15 Milliarden Dollar, also elf Milliarden Euro etwa, zur Verfügung gestellt als Kredit, von denen wie gesagt erst ein kleiner Teil geflossen ist. Das ist im Grunde genommen der Rahmen, in dem sich das Ganze abspielt.

Deutschlandfunk: Die Wirtschaft der Ukraine befindet sich Berichten zufolge auf einer steilen Talfahrt. Wie hoch ist eigentlich der Zeitdruck, unter dem dieses Hilfspaket geschnürt werden muss?

Erler: Der Zeitdruck ergibt sich aus zwei Komponenten. Einmal ist das ja jetzt ein Versuch, eine Übergangsregierung mit einer realistischen wirtschaftlichen Perspektive zu versehen. Das zweite ist natürlich, wodurch das unter Druck gerät, dass tatsächlich, wenn jetzt kein weiteres Geld aus Moskau fließt - und Putin hat ja zunächst einmal die nächsten zwei Milliarden Dollar, die anstanden als Tranche, gestoppt -, dass die wirtschaftliche Situation, die Zahlungsfähigkeit der Ukraine Druck macht, dass das Paket schnell geschnürt wird.

Deutschlandfunk: Was denken Sie, wie wird Russland, wie wird Wladimir Putin auf das Hilfsangebot aus dem Westen an Kiew reagieren?

Erler: Ich denke, er wird das so verstehen, wie es gemeint ist, nämlich dass auf diese Weise die Opposition nicht nackt dasteht vor den ukrainischen Bürgern, wenn sie versucht, jetzt eine Übergangslösung zu finden, sondern dass auf diese Weise so eine Art Patt-Situation steht. Die eine Seite könnte auf russische Hilfe vertrauen, die andere Seite kann jetzt auf westliche Hilfe vertrauen, so dass das Finanzargument nicht mehr zum Totschlagsargument im Machtkampf wird.

Deutschlandfunk: Gleichwohl haben wir ja die Erfahrung gemacht, dass Wladimir Putin auch schon mal den Gashahn als politisches Instrument einsetzt. Halten Sie es für ausgeschlossen, dass er die Gaslieferung an die Ukraine wieder stoppt, um den Druck zu erhöhen?

Erler: Ich weiß nicht, ob das realistisch ist. Aber es könnte natürlich eins sein: Er hat ja nicht nur 15 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt oder in Aussicht gestellt, sondern er hat auch den Gaspreis um nicht weniger als ein Drittel - und das ist viel - abgesenkt.

Deutschlandfunk: Das kann er sich ja noch mal anders überlegen.

Erler: Das kann er sich natürlich je nachdem, wie die Situation in Kiew ausgeht, noch mal anders überlegen. Das würde dann im Grunde genommen den Finanzbedarf der Ukraine noch mal erweitern und darüber ist sich die westliche Seite natürlich auch bewusst.

Deutschlandfunk: Das heißt, Sie halten das für eine realistische Möglichkeit?

Erler: Ich weiß es nicht, wie weit die russische Führung geht. Man darf ja auch nicht vergessen, dass wir einen politischen Rahmen haben, der von Sotschi geprägt ist, von den Olympischen Spielen. Ich glaube nicht, dass die russische Führung irgendetwas Dramatisches im Augenblick unternimmt, was auch dann den Erfolg der Spiele als Prestigegewinn gefährden könnte. Aber es gibt ja auch eine Situation nach den Spielen.

Deutschlandfunk:  Gernot Erler von der SPD, der Regierungsbeauftragte für die Beziehungen zu Russland und zur Ukraine. Das Gespräch haben wir heute Früh aufgezeichnet.