Es herrscht Friedhofsruhe

Interview The European, 03. Februar 2014

Die frostigen Beziehungen zwischen Russland und der EU sind nun sein Problem. Gernot Erler, der neue Russland-Beauftragte der Bundesregierung, über mögliche Szenarien, Putins Macht und die Frage, welche Priorität Menschenrechte haben. Das Gespräch führten Anne Scholz und Sebastian Pfeffer.

The European: Herr Erler, wie hat sich das Verhältnis zwischen Russland und Europa gewandelt, seit Sie zuletzt von 2003 bis 2006 für die Koordinierung zuständig waren?

Erler: Die Beziehung ist zunehmend angespannt. Das hängt mit langfristigen Entwicklungen zusammen, aber auch mit aktuellen Ereignissen. Im Augenblick ist die russische Politik sehr selbstbewusst. Damit verbunden ist auch ein kritischer Blick auf die Wirtschaftskrise in der EU. In Russland nimmt man die EU momentan als geschwächt wahr.

The European: Bedeutet das Selbstbewusstsein nach außen, dass sich die russische Führung innenpolitisch gefestigt sieht?

Erler: Innenpolitisch hat Putin derzeit nichts zu fürchten. Die Proteste rund um die Präsidentschaftswahlen 2012 und das relativ schlechte Ergebnis der jetzigen Regierung sind natürlich unvergessen. Gegen Oppositionelle wurden seither aber mehrere Maßnahmen ergriffen, um sie auszugrenzen. Dagegen sah es auf internationaler Ebene zeitweilig so aus, als sei Russland isoliert.

The European: Woran lag das?

Erler: Vor allem an der Syrienpolitik und der nachdrücklichen Unterstützung für Baschar al-Assad. Erst als über die Aufgabe der C-Waffen verhandelt wurde, konnte Moskau durch seinen konstruktiven Beitrag wieder an Prestige gewinnen. Zusammen mit der Aufnahme von Edward Snowden, der konstruktiven Entwicklung im Verhältnis zum Iran und der möglichen Rolle, die Russland im Nahostfriedensprozess und der Ukraine spielen kann, kam die Wende. Die Weltgemeinschaft ist auf Russland angewiesen.

The European: Im Falle der Ukraine ist Russlands Rolle allerdings noch unklar.

Erler: Bei dem Versuch, Präsident Viktor Janukowitsch von der Unterzeichnung des Assoziationsabkommens abzubringen, war sie sehr klar. Für Russland war das ein Erfolg. Allerdings ist nicht sicher, was weiter passiert. Es könnte sein, dass sich dieser Triumph als nicht nachhaltig erweist, wenn sich die proeuropäischen Kräfte durchsetzen. Denn inzwischen hat die Auseinandersetzung in Kiew auf weite Teile des Landes übergegriffen und ist eine gesamtukrainische Auseinandersetzung geworden.

The European: Die EU ist ein wichtiger Handelspartner für Russland. Kann sich Russland diese gegen die EU gerichtete Intervention in der Ukraine überhaupt leisten?

Erler: Ganz offensichtlich ist man das Risiko eingegangen, die Beziehungen zur EU zu verschlechtern. Jedoch ist die EU mit 70 Prozent nach wie vor der Hauptabnehmer von russischen Energieexporten. Das Handelsvolumen beträgt aktuell ungefähr 340 Milliarden Euro. Die EU braucht die Energie, Russland die Euro. Wir haben also ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis.

 

The European: Hat Russland deshalb in der Ukraine interveniert, weil es eine weitere Ausbreitung des europäischen Einflusses verhindern wollte?

Erler: Als Beschreibung der russischen Wahrnehmung ist das richtig. Dort herrscht das Gefühl, dass der Westen eine russische Schwächephase systematisch zur Expansion genutzt habe. Und dass das nun von Putin gestärkte Russland wieder erfolgreich seine eigenen Interessen vertreten kann. Bei der Ukraine, würde ich allerdings sagen, ist der Fall komplizierter.

The European: Inwiefern?

Erler: Die Politik der Östlichen Partnerschaft, die 2009 auf den Weg gebracht wurde, ist die Fortsetzung der europäischen Nachbarschaftspolitik. Sie war, was die Regionen östlich der EU angeht, nicht auf Westintegration ausgerichtet, sondern sollte nur die regionale Zusammenarbeit unterstützen. Insofern hatte man nicht damit gerechnet, dass Russland das als eine Fortsetzung einer expansiven Politik des Westens begreifen würde.

The European: Die EU hat die Brisanz des Assoziationsabkommens unterschätzt?

Erler: Lange dachte man, dieses Abkommen sei mit den russischen Interessen kompatibel. Offenbar ist auf der Strecke aber etwas passiert, und dazu gehören sicher auch die Pläne Putins zur Eurasischen Union.

The European: Auf ukrainischer Seite schien lange Zeit alles klar zu sein.

Erler: Genau. Was hat es für einen Sinn, ein Abkommen über fünf Jahre auszuhandeln und dann fünf Minuten vor Unterzeichnung plötzlich „Nein" zu sagen?

The European: Ist wirklich Geld der Grund?

Erler: Das ist eine Erklärung, die sich anbietet. Die Ukraine ist zunehmend in eine Situation geraten, die zum finanziellen Bankrott führen konnte. Deswegen hat sie wiederholt mit dem IWF über Kredite verhandelt. Allerdings hat der IWF sehr hohe politische Forderungen gestellt. Möglicherweise hatte man gehofft, dass die EU einspringt. Das war aber praktisch gar nicht möglich, da das Abkommen bereits fertig ausgehandelt war.

The European: In der EU wurde die Brisanz dieser Entwicklung offensichtlich nicht antizipiert.

Erler: Die EU wird in jedem Fall über ihre Russlandpolitik nachdenken müssen. Im Augenblick sieht es nicht so aus, als existiere ein einheitliches Konzept. Man hangelt sich eher von Situation zu Situation.

The European: Wie muss ein Konzept aussehen?

Erler: Es ist sehr sinnvoll, sich mit einem so wichtigen Partner auf eine stabile und langfristig orientierte Politik zu verständigen. Zu Konflikten wird es immer kommen, denn die Grundprinzipien der EU werden immer Leitfaden ihrer Politik sein; sei es in der Menschenrechtspolitik, dem Umgang mit der kritischen Zivilgesellschaft oder mit Homosexuellen. Das macht es natürlich kompliziert, weil die russische Seite, gerade wenn es um Kritik an der Innenpolitik geht, häufig sehr sensibel reagiert. Somit bleibt das ein Balanceakt. Auf der anderen Seite muss man aber auch dazu beitragen, dass sich Russland zu einem verlässlichen Partner bei der Lösung internationaler Fragen entwickelt. Diese beiden Stränge zusammenzuführen, ist außerordentlich schwierig und wird eine große Herausforderung sein.

The European: Also sollte die EU sich in erster Linie darauf konzentrieren, ihr Verhältnis zu Russland weiterzuentwickeln und weniger darauf, Einfluss auf die innerrussischen Verhältnisse zu nehmen?

Erler: Es gibt immer eine Prioritätenliste. Ich würde sagen, dass die Deeskalation in der Ukraine ganz oben stehen muss. Aber das kann sich natürlich in wenigen Tagen wieder ändern.

The European: Und für Russland direkt?

Erler: Die Modernisierungspartnerschaft ist eine offizielle Strategie geworden. Wobei Deutschland mit seinem eigenen Angebot einer Modernisierungspartnerschaft vorausgegangen ist. Vielleicht wird man einen Teil dieser Partnerschaft zu einer EU-Strategie für Russland machen können. Das sollte man nicht nur einseitig auf Technologie und wirtschaftliche Zusammenarbeit beziehen, sondern auch auf eine moderne Administration, Good Governance und die Nutzung der aktiven und kreativen Kräfte der Zivilgesellschaft.

The European: In den letzten Jahren schien es, als ob die kritische Zivilgesellschaft stärker würde. Täuschte dieser Eindruck?

Erler: Von einer Stärkung der Civil Society kann man im Augenblick nicht sprechen. In der Wahlphase 2011/12 gab es zwar einen Auftrieb. Danach hat sich allerdings herausgestellt, dass eine dauerhafte Handlungsfähigkeit dieses kritischen Teils der Gesellschaft nicht hergestellt werden konnte. Der Kooperationsrat, der damals hauptsächlich über das Internet gewählt wurde, hat sich wieder aufgelöst. Die Maßnahmen, die Putin nach seiner Wiederwahl ergriffen hat, haben die Opposition sehr geschwächt. Derzeit herrscht eher Friedhofsruhe.

The European: Sie haben einmal gesagt, der westlichen Welt sei es noch nicht gelungen, Putin davon zu überzeugen, dass eine moderne konkurrenzfähige Industriegesellschaft eine starke Zivilgesellschaft braucht. Sollte es weiter das Ziel der EU sein, diese Überzeugungsarbeit zu leisten?

Erler: Ich halte das nach wie vor für eine chancenreiche Argumentation. Schließlich richtet sie sich auf ein erfolgreiches Russland. Als Medwedew Präsident war (2008-2012), hat es viele gemeinsame Anstrengungen gegeben, solche Konzepte für die Zukunft Russlands zu entwickeln. Mit einer starken Beteiligung von russischen Think Tanks und deutschen Stiftungen ...

The European: ... die sich inzwischen als ausländische Agenten registrieren müssen.

Erler: Das ist eindeutig eine Fehlentwicklung. Die aktuelle Führung hat offenbar immer noch den Eindruck, dass die Notwendigkeit, in eine solche Richtung zu gehen, gering ist.

The European: Woran liegt das?

Erler: Die Energiepreise sind nach wie vor relativ hoch.

The European: Und so lange es Rohstoffe gibt, braucht man die Zivilgesellschaft nicht?

Erler: Nein, denn die russische Wirtschaft ist eher geschrumpft. Insofern sollten die Alarmglocken läuten. Die Führung muss darüber nachdenken, wie Russlands Wirtschaft in Zukunft konkurrenzfähig bleiben kann. Unsere Erfahrung ist, dass man dafür ein aktives, gesellschaftliches Leben und ein bürgerschaftliches, ökonomisches und intellektuelles Engagement braucht. Das ist die westliche Erfahrung und sich darüber auszutauschen, finde ich immer noch spannend.

The European: Erst mal wird das russische Gas doch noch teurer bzw. wertvoller.

Erler: Es gibt verschiedene Szenarien. Das Thema Fracking ist beispielsweise noch nicht von der russischen Wirtschaft realisiert worden. Und die deutsche Energiewende verändert den Bedarf nach fossilen Rohstoffen. Das ist zwar noch keine gesamteuropäische Tendenz, aber mittelfristig wird es eine werden. Insofern gibt es eine Menge guter Gründe, sich zukunftsorientiert über den Reformbedarf zu unterhalten. Mir ist aber auch klar, dass die Erfolgserlebnisse der jüngsten Vergangenheit den Druck für Reformen verringern. Das kann wiederum dazu führen, dass wir am Ende weniger harmonische Prozesse haben werden.

The European: Dann sind die Amnestien der letzten Monate mehr ein Medienspektakel als eine Form von Einsicht gewesen?

Erler: Vielleicht bin ich da etwas zu optimistisch, aber ich halte das für eine noch unbeantwortete Frage. Ich habe auch schon erlebt, dass solche Maßnahmen eine Eigendynamik entfalten können. Immerhin wurden Erwartungen geweckt, die nicht so einfach verschwinden werden.

The European: Auch die Olympischen Spiele schaffen Räume, die für kritische Äußerungen genutzt werden können.

Erler: Es ist normal und nachvollziehbar, dass es Gruppen gibt, die diese Spiele dazu nutzen werden, auf kritische Zustände hinzuweisen. Es sollte allerdings in einer fairen Weise passieren.

The European: Was heißt für Sie fair?

Erler: Sotschi ist ein sehr persönliches Projekt von Putin, er ist damals selbst zum IOC gereist und hat einiges investiert. Jeder weiß das, aber wir wissen auch, dass ein solches internationales Ereignis in einem Land zu Identifikationsprozessen führt. Für die Mehrheit der russischen Bevölkerung sind die Spiele vor allem eine Chance, sich und ihre Kultur zu präsentieren. Die Spiele werden die Neugierde für Russland wecken und es wird viele Berichte geben - nicht nur negative. Fairer Umgang heißt für mich, dass man diese Neugierde nicht nur selektiv, sondern auch in der Breite befriedigt und die Olympischen Spiele nicht auf wenige Stichworte reduziert.

The European: Das heißt, letztlich raten Sie zu mehr Verständnis für die russische Seite?

Erler: Ja. Etwas vom anderen zu verstehen, ist für mich kein Gegensatz zu Kritik. Ich habe nie verstanden, warum stets in Russlandversteher und Russlandkritiker unterteilt wird. Verständnis und Kritik sind kein Widerspruch.