Rede zur Lage der Nation: Keine Anzeichen für Liberalisierung Russlands

Deutschlandfunk: Gernot Erler im Gespräch mit Silvia Engels, 12. Dezember 2013

Der russische Präsident Wladimir Putin habe in seiner Rede zur Lage der Nation viele Fragen offen gelassen, erklärt der amtierende SPD-Fraktionsvize Gernot Erler im DLF. Der Ukraine habe er nicht gedroht, sondern ihr eher ein Angebot gemacht.

Silvia Engels: Russlands Ziel, die Ukraine eng an sich zu binden, ist ein wichtiger Bestandteil des Konflikts, der gerade in Kiew ausgetragen wird. Wie wichtig Moskau diese Bindung ist, daran ließ der russische Präsident Putin in seiner heutigen Rede zur Lage der Nation keinen Zweifel. Noch einmal bot er Kiew eine Zollunion an. Zugleich rief er alle Seiten in der Ukraine zum Dialog auf.

Mitgehört hat Gernot Erler, er ist amtierender stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und als langjähriger Russland-Kenner bekannt. Guten Tag, Herr Erler!

Gernot Erler: Guten Tag, Frau Engels.

Engels: Greifen wir den letzten Punkt auf: die lang erwartete russische Amnestie russischer Gefangener war im Vorfeld viel diskutiert worden, nun war sie in der Rede kein Thema. Eine Enttäuschung?

Erler: Ja, auf jeden Fall, denn es gab eine Erwartung, die auch in der russischen Öffentlichkeit eine Rolle gespielt hat, und dass darüber kein Wort in dieser Rede zur Lage der Nation vorkommt, ist überraschend.

Engels: Besonderes Augenmerk hatte sich ja hier im Westen vor allen Dingen in diesem Zusammenhang mit der Amnestie auf die inhaftierten Mitglieder der Punk-Gruppe Pussy Riot gerichtet. Hier hatte man gehofft oder erwartet, dass sie Teil der Amnestie sein können. Stattdessen hat nun auch heute das oberste Gericht die Überprüfung des Urteils angeordnet. Wie ordnen Sie das ein?

Erler: Na ja, das ist ein anderer Strang des Geschehens. Das ist natürlich der andere Weg. Das ist jetzt hier die Überprüfung dieser Urteile und das stimmt ja etwas hoffnungsvoll, obwohl in wenigen Monaten sowieso eigentlich die Bestrafungszeit endet. Aber es könnte doch zu einer vorzeitigen Entlassung kommen, denn jetzt ist eine Überprüfung angeordnet worden, ob tatsächlich Hass ein Beweggrund für die Pussy-Riot-Leute gewesen ist, für die Frauen, die da aktiv waren. Da sind Zweifel dran geäußert worden und dann könnte das zu einer Veränderung des Strafmaßes führen.

Für Fehler sind andere verantwortlich

Engels: Putin hat in seinem innenpolitischen Teil der Rede vor allen Dingen Reformanstrengungen bei der Wirtschaft angemahnt. Haben Sie im innenpolitischen Teil irgendwelche Anzeichen darüber hinaus für eine Liberalisierung im Land gehört?

Erler: Nein. Ich meine, die ganze Rede ist geprägt von einem Gegensatz, nämlich im Grunde genommen von dem üblichen Zeremoniell, was die Innenpolitik und vor allen Dingen die wirtschaftliche Situation angeht, dass nämlich Putin die Rolle spielt dessen, der kritisiert, der sagt, es läuft alles nicht gut, wo ist eigentlich die Umsetzung von dem, was wir vor anderthalb Jahren beschlossen haben. Das heißt, andere sind natürlich schuld, das sind die Minister, das ist Medwedew und sein Team. Das wird natürlich nicht gesagt, aber das steckt dahinter. Und er ist natürlich dann sehr gerne auf das Gebiet der internationalen Politik gekommen, weil er da was vorweisen kann. Es ist noch erinnerlich, dass noch vor wenigen Monaten Russland drohte, in eine sehr starke Isolation zu geraten, vor allen Dingen über das Thema Syrien, weil es immer an Präsident Assad in tiefer Verbundenheit festgehalten hat, und dann kam diese Entwicklung in Syrien mit den C-Waffen-Beständen und dann ist Putin aus dieser Isolierung herausgekommen. Und dann hat er auch noch eine konstruktive Rolle in dem Iran-Konflikt gespielt und das gibt ihm großes Selbstbewusstsein, und das hat er auch zum Ausdruck gebracht.

Engels: Die Außenpolitik hat eine große Rolle gespielt. Dann blicken wir auf den Punkt, der uns aus aktuellem Anlass besonders interessiert, nämlich die Ukraine. Putin hat Kiew in seiner Rede einmal mehr die Zollunion, also die besonders enge Zusammenarbeit, angeboten. Wie ordnen Sie das ein?

Erler: Ich fand diese Passage jetzt eigentlich eher zurückhaltend, gemäßigt. Putin wollte jeden Eindruck vermeiden, dass Druck ausgeübt wird auf die Ukraine. Dieser Druck ist natürlich in Wirklichkeit seit Monaten ausgeübt worden. Schon im Sommer hat es Maßnahmen, was den Handel angeht, gegeben, hat es Schikanen bei der Zollabfertigung von bestimmten Waren gegeben, und es ist auch gedroht worden, das weiterzumachen. Aber es hat sich ja nun gezeigt, dass diese Drohungen nicht verfangen haben, und deswegen hat Putin Wert darauf jetzt gelegt, Russland als eine Macht darzustellen, die nicht nach Hegemonie, nicht nach irgendwelchen hegemonialen Ideen strebt, sondern ein modernes, aufgeschlossenes Land ist und gerne mit der Ukraine zusammenarbeitet. Aber das klang eher wie ein Angebot als wie eine Drohung, und das war sicher kein Zufall.

Hintergründe der Ablehnung des EU-Abkommens unklar

Engels: Aber Präsident Janukowitsch hat doch offenbar dem Druck Russlands dahin gehend nachgegeben, dass er eben nicht beim letzten Gipfel das EU-Assoziierungsabkommen unterzeichnet hat. Jetzt sind wieder Stimmen zu hören, er sei bereit, es zu unterzeichnen. Leiten Sie daraus ab, dass Russland tatsächlich den Druck gesenkt hat?

Erler: Zumindest kam jetzt mal in der Rede, in dieser wichtigen Rede, die auch richtungsweisend ist, ein solcher Druck oder gar eine Drohung nicht mehr vor, und, Frau Engels, ich bin mir auch nicht so ganz sicher, was die Motive für Janukowitsch und sein Kabinett gewesen sind. Ich muss doch noch mal daran erinnern, dass der IWF, der Internationale Währungsfonds, am 20. 11. die Bedingungen für eine weitere Unterstützung der Ukraine ziemlich dramatisch erweitert hat, mit der Forderung von Einfrieren von Renten, Stipendien und Entlassungen von Staatsbediensteten, nachdem vorher schon die Forderung im Raum war, die Griwna, die Landeswährung abzuwerten und die Gaspreise für die Kunden, die privaten Verbraucher zu erhöhen. Einen Tag später, am 21. 11., fiel diese Entscheidung in letzter Minute nach sieben Jahren Verhandlungen, doch nicht die Unterschrift zu leisten unter das Assoziationsabkommen mit der EU. Ich sehe hier einen engen Zusammenhang und ich glaube, wenn wir jetzt die Nachricht von Frau Ashton ernst nehmen, dass es vielleicht doch zu einer Unterzeichnung kommt, dann weist das eher darauf hin, dass es hier tatsächlich große Ängste gab, dass es große Verunsicherung gab, wie die Ukraine eigentlich das nächste Jahr finanziell überstehen soll, und vielleicht konnten die ja jetzt inzwischen zwischen der EU und der Ukraine ausgeräumt werden.

Die Schwierigkeiten haben sich Jahre aufgebaut

Engels: Das heißt, Sie rechnen in der Tat auch mit einer baldigen Unterzeichnung, und welche Rolle sollte dabei eine künftige deutsche Bundesregierung spielen?

Erler: Ich nehme natürlich diese Nachricht ernst, die Frau Ashton verbreitet hat. Das ist ja nicht irgendein Gerücht, sondern das ist ja eine Ankündigung, und ich glaube nicht, dass die Hohe Repräsentantin der europäischen Außenpolitik da irgendwelche nicht zu verantwortenden Meinungen äußert oder Informationen gibt.

Engels: Aber zuletzt war das ja gekoppelt mit der ukrainischen Forderung nach Krediten des Westens.

Erler: Ja. Deswegen sage ich ja, vielleicht gibt es da eine Einigung, ich weiß es nicht. Darüber ist im Augenblick noch nichts in der Öffentlichkeit. Aber ich stelle nur eins fest: Das, was Asarow, der Ministerpräsident, hier als Erwartung geäußert hat, nämlich 20 Milliarden Euro, das ist ungefähr das, von dem Fachleute sagen, was mindestens gebraucht wird, um eine Zahlungsunfähigkeit der Ukraine im Jahr 2014 zu umgehen. Das heißt, das ist eine objektive Zahl, das ist keine gegriffene oder erfundene, sondern das ist ungefähr das, was dringend benötigt wird. Die EU ist ja auch im Prinzip bereit, die hat selber nachgedacht über zehn Milliarden in sieben Jahren, Strukturhilfen an die Ukraine zu zahlen. Vielleicht gibt es hier ein konkretes Angebot, jetzt der Ukraine aus der momentanen Schwierigkeit, die sich schon lange aufgebaut hat, zu helfen, und dann ist das vielleicht realistisch, was wir da gehört haben.

Engels: Gernot Erler, amtierender stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Wir sprachen mit ihm über Putins Rede zur Lage der Nation und die Entwicklung in der Ukraine. Vielen Dank für Ihre Zeit.

Erler: Danke!

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