Altes Denken als politische Gefahr

Zu den internationalen Reaktionen auf die Vorgänge in Syrien erklärt der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Gernot Erler:

Altes Denken kann gefährlich sein. Das lässt sich an den westlichen Reaktionen auf die "Arabische Erhebung" und an den Verhaltensweisen anderer im Fall Syrien gut beobachten. Offenbar fällt es schwer, vertraute Einschätzungen zu hinterfragen. Bisher galt: Gut ist, wer zur Stabilität beiträgt. Stabilität bedeutete gesicherte Geschäfte, vor allem Zugang zu Energieressourcen. Als Partner wurden dabei auch Menschenrechtsverächter akzeptiert. Dieses unausgesprochene Dogma erhielt vor zehn Jahren noch eine lebenserhaltende Injektion: der 11. September 2001 betonierte das Stabilitätskriterium. Die Kooperation mit autoritären Regimen in der Großregion Maghreb-Nordafrika legitimierte sich fortan noch zusätzlich über die Terrorgefahr, der diese Regime ausgesetzt waren und deswegen Unterstützung einforderten.

Die Arabische Erhebung hat das alles infrage gestellt. Regime, die wie in Tunesien und Ägypten nach fünf- oder 17-tägigen Protestdemonstrationen implodierten, lassen damit auch das Stabilitätsdogma platzen. Es gilt einfach nicht mehr, für niemanden in der Region. Das ist es, was einen an den deutschen Leopard-Lieferungen an Saudi-Arabien so fassungslos macht: das Geraune von regionalen Stabilitäts- und Balanceaspekten zur Begründung. Als hätte es den politischen Umbruch in dieser Region nie gegeben. Solche Ignoranz kann zu gefährlichen Fehleinschätzungen führen.

Genauso unglaublich erscheint der Widerstand von Staaten wie Russland, China, Indien, Brasilien und Südafrika gegen jede syrienkritische Resolution der Vereinten Nationen angesichts des blutigen Krieges gegen das eigene Volk durch das Assad-Regime. Moskau hält verbissen an Syrien als einem Stein von strategischer Bedeutung auf einem Schachbrett fest, das längst unter Durcheinanderwürfelung aller Figuren umgestoßen wurde. Die anderen Verweigerer haben weniger konkrete Regionalinteressen, möchten aber offenbar die Hürde für jedes Eingreifen der Vereinten Nationen höher setzen, und sei es für eine folgenarme verbale Verurteilung durch den Sicherheitsrat.

Man mag spekulieren darüber, warum diese Ländergruppe die Messlatte gerne noch höher legen will als das Niveau der brutalen Menschenrechtsverletzungen, um die es inzwischen in Syrien geht. Der Verdacht muss einmal ausgesprochen werden, dass sie jedes Verdikt der Weltorganisation blockieren, weil sie nicht sicher sind, welche Mittel sie im Falle eines Falles anwenden würden. Auch das Politikverständnis, das hinter diesem Verhalten steht, wirkt veraltet und den globalen Herausforderungen nicht gewachsen. Der inzwischen drohende Glaubwürdigkeitsverlust der Vereinten Nationen ist eine Gefahr für die ganze Weltgemeinschaft, einschließlich der Blockierer in Sachen Syrien. Was muss eigentlich noch passieren, bis der Weg wenigstens für eine Minimal- Reaktion der UNO freigegeben wird? Die kommenden Tage werden darauf vielleicht eine Antwort bringen.

2. August 2011