Mubaraks Rücktrittsankündigung: Zu spät und zu wenig

Zu den jüngsten Entwicklungen in Ägypten erklärt der Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Gernot Erler:

Seit Wochen beweisen die Menschen in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Ländern Mut und Entschlossenheit. Ihre Forderungen nach Freiheit, Demokratie und besseren sozialen Perspektiven sind mehr als legitim. Die Ankündigung des ägyptischen Präsidenten Mubarak, im September nicht erneut bei den Präsidentschaftswahlen anzutreten, dürfte kaum ausreichen, die protestierenden Massen zu besänftigen.

Der Westen darf jetzt nicht in eine Art Schockstarre verfallen und als einziges die Gefahr eines heranziehenden Islamismus an die Wand malen, der die gesamte sicherheitspolitische Architektur in der Region zum Wanken bringt.

Bundesregierung und EU sollten sich stattdessen schnellstmöglich auf konkrete Angebote verständigen, um die im Übergang befindlichen Gesellschaften bei ihrem Demokratisierungsprozess zu unterstützen und dadurch den radikal-islamistischen Kräften von vornherein die Legitimationsgrundlage zu entziehen.

Die Auswirkungen der Ereignisse in Tunesien und Ägypten auf weitere Länder der Region und die gesamte Sicherheitsarchitektur sind noch nicht absehbar. Bei allen Unwägbarkeiten und Risiken, die mit dieser Entwicklung verbunden sind, sollten wir anerkennen, dass es das legitime Recht des ägyptischen Volkes ist, sich seiner korrupten und in Bezug auf notwendige gesellschaftliche Reformen als inkompetent erwiesenen politischen Führung zu entledigen. Der ägyptischen Bevölkerung sollten wir für ihren Mut und ihre Ausdauer, mit der sie sich für ihre eigenen Interessen einsetzt, Respekt erweisen.

Große Teile der Protestierenden denken und handeln sehr viel differenzierter als es hierzulande mitunter wahrgenommen wird. Die Veränderungen in Ägypten einzig und allein unter der Drohkulisse einer Islamisierung zu betrachten hieße, das poltische Bewusstsein der ägyptischen Bevölkerung zu unterschätzen und die Rufe nach Demokratie und Freiheit, wie sie uns aus Kairo, Alexandria und anderen ägyptischen Städten entgegenschallen, nicht ernst zu nehmen oder gar als Fahrlässigkeit unserer westlichen Sicherheitsinteressen gegenüber zu denunzieren.

Wir müssen uns verabschieden von einem antiquierten Paternalismus, der zu wissen vorgibt, welcher Weg und welche gesellschaftliche Ordnung für die Stabilität in der Region des Nahen Ostens am besten zu sein scheint und dabei vergisst, dass dort überwiegend junge Menschen leben, die noch etwas von der Zukunft erwarten und die das gleiche Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und demokratische Grundfreiheiten haben wie ihre Altersgenossen in Berlin, Paris oder Madrid.

Weder in Ägypten noch in anderen arabischen Ländern bestehen die politischen Alternativen nur aus autoritärer Staatsführung auf der einen und rückwärtsgewandtem Islamismus auf der anderen Seite. Angezeigt ist jetzt auch für uns ein Lernprozess, bei dem wir uns von eingefahrenen Denkmustern verabschieden müssen. Die politische Landschaft des Nahen Ostens ist bunter und vielfältiger, als es hier lange Zeit wahrgenommen wurde und vielleicht auch wahrgenommen werden wollte.

Pressemitteilung vom 2. Februar 2011