IGH-Gutachten zum Kosovo: Das Rad der Geschichte kann nicht zurückgedreht werden

Pressemitteilung, 22. Juli 2010

Zu dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo erklärt der Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Gernot Erler:

Das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes war mit Spannung erwartet worden. Doch nicht alle Erwartungen, insbesondere nicht die der antragstellenden serbischen Seite, dürften sich erfüllt haben. Denn eines haben die Richter in Den Haag deutlicher als erwartet klargestellt: Die Unabhängigkeit Kosovos widerspricht nicht dem geltenden Völkerrecht. Sie ist eine unmittelbare Folge der jahrelangen Unterdrückung in der Zeit der Milošević-Herrschaft und dem daraus resultierenden Kosovo-Krieg. Damals hat Serbien seinen Herrschaftsanspruch über das Kosovo unwiderruflich verspielt. Das sieht offensichtlich auch die Mehrheit der Richter des IGH in ihrer Mehrheit so.

Bislang haben 69 Staaten weltweit, davon 22 aus der EU, Kosovo anerkannt. Man kann davon ausgehen, dass nach dem heutigen Gutachten weitere Staaten mit der Anerkennung und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen folgen werden.

Es wäre insbesondere im serbischen Interesse, die Realität auf dem Balkan, wie sie sich im Laufe der beiden zurückliegenden Jahrzehnte entwickelt hat - und dazu gehört unwiderruflich die Unabhängigkeit des Kosovo - zu akzeptieren und sich konstruktiv an der Gestaltung gutnachbarschaftlicher Beziehungen zu beteiligen. Die nach wie vor in weiten Teilen der serbischen Elite dominierende Ansicht, das Rad der Geschichte wieder zurückdrehen zu können, macht das Land zum Gefangenen eigener Wunschvorstellungen.

Serbien könnte bereits einen wesentlichen Schritt weiter auf dem Pfad der europäischen Integration sein, würde es nicht immer wieder unrealistische Gebietsansprüche auf der Grundlage fragwürdiger historischer Ableitungen geltend machen. Das jetzt vorliegende Gutachten bietet zugleich eine Chance für Belgrad, sich gesichtswahrend aus diesem selbst verursachten Dilemma zu befreien und sich der Bewältigung der eigentlichen Zukunftsaufgaben, vorrangig der Integration des Westbalkans in die europäischen Strukturen, zu widmen. Bleibt zu hoffen, dass die serbische Politik diese Chance nicht einfach verstreichen lässt.

Aber auch für die kosovarische Regierung ist das Rechtsgutachten kein Freibrief. Sie hat noch eine Reihe von Hausaufgaben zu erledigen. Die nach wie vor grassierende Korruption ist ein Hindernis auf dem Weg der europäischen Integration. Der wirksame Schutz der Menschen- und Minderheitenrechte sowie die Überwindung von Defiziten im Bereich der Rechtsstaatlichkeit gehören ebenso dazu wie die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, die ein Haupthindernis bei der Entwicklung einer prosperierenden Wirtschaft und der dafür erforderlichen ausländischen Investitionen darstellt.

Das jetzt vorliegende IGH-Gutachten eignet sich nicht als Vorlage für andere Entitäten, eine eigene Staatlichkeit für sich zu proklamieren. Es bezieht sich einzig und allein auf die politisch-historischen Umstände, die zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo geführt haben und allein schon deshalb keine automatischen Schlussfolgerungen auf andere Regionen und Konflikte zulassen.