Das Massaker von Srebrenica – Auslöser für Europas neue Balkanpolitik

Pressemitteilung, 8. Juli 2010

Aus Anlass des 15. Jahrestags des Massakers von Srebrenica, bei dem am 11. Juli 1995 und an den darauf folgenden Tagen etwa 8.000 muslimische Männer im Alter zwischen 12 und 77 Jahren ermordet wurden, erklärt der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Gernot Erler:

Das Massaker von Srebrenica, das die Weltöffentlichkeit im Juli 1995 aufschreckte, war ein besonders grausames Kapitel im ohnehin sehr blutigen Bosnienkrieg mit seinen etwa 200.000 Toten. Nur fünf Jahre nach den friedlichen Revolutionen in Mittel- und Südosteuropa, die ein Zusammenwachsen Europas möglich erscheinen ließen, vollzog sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit das schwerste Kriegsverbrechen auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Am 11. Juli gedenken wir der Opfer dieses Verbrechens.

Die vier Jugoslawienkriege seit Anfang der neunziger Jahre waren die Folge von ungelösten Konflikten, die ihren Anfang vor Jahrzehnten, teilweise sogar Jahrhunderten genommen hatten und die durch den jugoslawischen Zentralstaat, der sich nach 1945 etabliert hatte, nur oberflächlich zugedeckt wurden. Mit Slobodan Milosevic auf serbischer und Franjo Tudjman auf kroatischer Seite traten zwei politische Akteure auf die Bühne, die aus ihrer nationalistischen und antidemokratischen Gesinnung kein Hehl machten.

Leidtragende waren wie so oft in solchen Situationen die einfachen Bürgerinnen und Bürger. Menschen, die zuvor in friedlicher Nachbarschaft gelebt hatten, verwandelten sich über Nacht zu Feinden und wurden für nationalistische und chauvinistische Ziele instrumentalisiert. Ethnische Säuberungen in Verbindung mit Territorialgewinnen mal der einen, mal der anderen Seite machten das ehemalige Jugoslawien zu einem riesigen Schlachtfeld mitten in Europa. Längst überholt geglaubter Nationalismus brach sich blutig seine Bahn. Doch Europa traf dieser Rückfall in die Barbarei völlig unvorbereitet. Es war eine sehr schmerzhafte Erfahrung, dass der Frühling der politischen Veränderungen, der von Ende der 80er bis Anfang der 90er Jahre andauerte, auf dem Balkan nicht nur keine Fortsetzung fand, sondern dort durch eine Orgie der Gewalt ersetzt wurde.

Die USA erkannten die Brisanz und die Dynamik dieser fatalen Entwicklung frühzeitig und engagierten sich politisch und militärisch, um dem Morden an unschuldigen Zivilisten ein Ende zu bereiten. Verhindern konnten sie die Katastrophe dennoch nicht. Europa brauchte deutlich länger, um seine Verantwortung für diese Region, die sich mitten im Herzen des eigenen Kontinents befand, zu erkennen und entsprechend zu handeln.

Am 11. Juli 1995 wurde dem gewaltsamen Treiben mit dem Massaker von Srebrenica ein weiteres grausames Kapitel hinzugefügt. Die Bewohner in der muslimischen Enklave innerhalb des serbischen Siedlungsgebietes in Bosnien, zum größten Teil Flüchtlinge aus der gesamten Region, waren schon lange zuvor allein gelassen worden. Die serbische Soldateska unter Führung von Ratko Mladic brauchte nur auf den geeigneten Augenblick zu warten, um die aus ihrer Sicht "richtigen Verhältnisse" wieder herzustellen. Frauen und Kinder wurden vertrieben, die Männer kaltblütig ermordet. Die niederländischen Soldaten, die im Auftrag der Vereinten Nationen die muslimische Bevölkerung schützen sollten, standen von Beginn an auf verlorenem Posten. Sie konnten die Katastrophe zu keinem Zeitpunkt verhindern.

Im Nachhinein markiert diese Tragödie einen Wendepunkt sowohl in der Wahrnehmung als auch im Handeln der internationalen Gemeinschaft, insbesondere aber der Europäer. Es war fortan nicht mehr möglich, tatenlos wegzuschauen. Noch im selben Jahr wurde unter US-amerikanischer Leitung das Abkommen von Dayton unterzeichnet, das einen zwar fragilen aber bis heute immerhin tragfähigen Kompromiss zur Erhaltung des multi-ethnischen Staates Bosnien-Herzegowina auf den Weg brachte.

Die Konsequenzen im veränderten Verhalten der Europäer sollten sich einige Jahre später zeigen: Denn schon zeichnete sich am Horizont der nächste schwere ethnische Konflikt ab - im Kosovo. Die albanischstämmige Mehrheitsbevölkerung war nicht mehr bereit, die jahrelangen Schikanen und Demütigungen durch die serbische Seite hinzunehmen. Die Lage eskalierte immer mehr. Doch ein zweites "Srebrenica" - die Vertreibung und Ermordung unschuldiger Menschen, ohne dass die internationale Gemeinschaft versucht hätte, diesem Unrecht Einhalt zu gebieten, war fortan nicht mehr vorstellbar. Niemand wollte sich mehr dem Vorwurf aussetzen, einfach wegzuschauen. Das rechtzeitige Intervenieren zum Schutz der kosovarischen Bevölkerung war letztendlich ohne Alternative, auch wenn die regionalen Probleme bis heute noch nicht abschließend gelöst sind, wie der blutige Zwischenfall in Mitrovica am 2. Juli auf traurige Weise demonstriert hat.

Srebrenica steht insofern für zwei Wegmarken: Zum einen war es eines der furchtbarsten Einzelverbrechen seit 1945 auf europäischem Boden. Zum anderen war es ein Weckruf: Nie wieder sollte sich ein vergleichbar schlimmes Ereignis innerhalb Europas wiederholen. Europa hat aus den blutigen Kriegen der neunziger Jahren die einzig richtige Konsequenz gezogen: Die Zusage für die europäische Perspektive und für die Integration des westlichen Balkans in die europäischen Strukturen. Bis zum heutigen Tag wurde ein wichtiger Teil dieser Wegstrecke bereits zurückgelegt. Aber noch längst sind nicht alle Hindernisse aus dem Weg geräumt. Die Gefahr eines Rückschlags, bis hin zu blutigen Auseinandersetzungen, ist noch nicht vollständig gebannt.

Für uns bedeutet das: Die europäische Perspektive für den Westbalkan muss Gültigkeit behalten und der eingeschlagene Weg der Integration muss konsequent fortgesetzt werden. Der westliche Balkan hat nur dann eine Entwicklungsperspektive, wenn er fester Bestandteil der europäischen Strukturen wird und sich eine solche Tragödie wie heute vor 15 Jahren nicht mehr wiederholen kann.