Eine deutsche Handschrift war nicht festzustellen

Interview mit Gernot Erler, Cicero online, 29. Januar 2010

Gernot Erler, früher Staatsminister unter Frank-Walter Steinmeier im Auswärtigen Amt, fordert von der Bundesregierung im Interview mit Cicero Online eine detaillierte Erklärung für mögliche Truppenaufstockungen in Afghanistan. Davon sei die Zustimmung der SPD im Bundestag abhängig. Zudem schließt er auch ein militärisches Engagement am über das Jahr 2015 nicht aus.

Cicero: Herr Erler, wie bewerten Sie die Londoner Konferenz? War das ein Erfolg?

Gernot Erler: Die Konferenz setzt einen neuen Schwerpunkt auf Leistungen der afghanischen Regierung. Es wurde versucht, einen verbindlichen Ablauf für eine schrittweise Übergabe der Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände vorzugeben - aber auch für kontrollierte Leistungen im Bereich von Regierungsführung, Kampf gegen die Korruption und gegen die Kriminalität. Das ist zumindest eine neue Schwerpunktsetzung.

Cicero: Außenminister Westerwelle sagte im Anschluss an die Konferenz recht euphorisch, dass in London ein „neues Kapitel" aufgeschlagen wurde. Wäre es nicht ehrlicher gewesen erst einmal festzustellen, dass wir dort im Prinzip gescheitert sind und jetzt das Beste daraus machen müssen?

Gernot Erler: Ich bin nicht euphorisch und habe auch ein gutes Gedächtnis an viele Zusagen, die wir fast gleichlautend schon früher von dem afghanischen Präsidenten bekommen haben. Die Entschlossenheit der internationalen Gemeinschaft mit den Amerikanern an der Spitze, jetzt tatsächlich einen Durchbruch im Sinne einer Last-Minute-Kehrtwende zu erzielen, ist aber nicht zu unterschätzen. Das ist die eigentlich neue Qualität.

Cicero: Reicht das denn aus, um das Blatt in Afghanistan zu wenden?

Gernot Erler: Ich bin mir nicht sicher, ob das schon ausreicht, um den Erfolg herbeizuzwingen. Aber die Ansätze - sehr stark auf die Ausbildung von afghanischen Soldaten und Polizisten umzuschwenken, die Polizeiausbildung fast zu verdoppeln, einen sogenannten civilian surge mit Verantwortlichen der internationalen Gemeinschaft, der Vereinten Nationen, der Nato und der EU für den zivilen Aufbau zu machen - das sind Schritte, die erfolgversprechender sind als die bisherige Strategie.

Cicero: Das Abschlussdokument liest sich wie eine Aneinanderreihung von Bekundungen und Absichtserklärungen. Die letzten acht Jahre sollten doch aber gezeigt haben, dass Bekundungen nicht mehr ausreichen.

Gernot Erler: Wenn man genau hinschaut, enthält dieses Dokument an einigen Stellen mehr. Karzai hat versprochen, die Korruptionsbekämpfung in den Vordergrund seiner zweiten Amtszeit zu stellen. Die internationale Gemeinschaft hat zwei Institutionen beschlossen, um das auch zu überprüfen.

Cicero: Im Wesentlichen sind alle Staaten auf die McChrystal-Strategie eingeschert. Wie wird denn jetzt sichergestellt, dass fortan alle Bündnispartner an einem Strang ziehen?

Gernot Erler: Ich glaube, dass ein formaler Beschluss hier nicht notwendig ist. Die USA stellen demnächst fast 100.000 Soldaten, insgesamt werden es rund 135.000 sein. Das ist ein solches Übergewicht, dass die US-Strategie automatisch verbindlich ist - zumindest in dem gesamten militärischen Bereich. Zugleich ist Platz für Eigeninitiativen anderer Staaten. Mit unseren Bemühungen im zivilen Wiederaufbau können wir also nachwievor ein eigenes deutsches Gesicht behalten. Aber das bezieht sich nicht auf die militärische Strategie.

Cicero: Die USA schicken nun bis zu 5.000 Soldaten in den Norden, wo auch Deutschland aktiv ist. Heißt dies, dass die Bundeswehr dort de facto entmachtet wird?

Gernot Erler: Das spiegelt in jedem Fall das enorme militärische Übergewicht der USA wider. Die amerikanische Präsenz wird dominierend sein. Bisher gibt es aber keine Anzeichen dafür, dass das auch zu einer Veränderung der Kommandoverantwortung führen wird.

Cicero: Bis 2014 soll die Verantwortung für die Sicherheit in afghanische Hände überführt werden, wofür noch viele tausende Polizisten und Soldaten ausgebildet werden müssen. Die Polizeigewerkschaft in Deutschland kritisiert, dass dies überhaupt nicht realistisch ist. Wie sehen Sie das?

Gernot Erler: Das sind sehr ehrgeizige Programme. Wir haben jetzt einen Gegensatz zwischen dem, was die Polizeigewerkschaft sagt, und dem, was die Länderinnenminister bereit sind zur Verfügung zu stellen. Das muss geklärt werden. Wir würden aber einen sehr schlechten Dienst an der ganzen Mission leisten, wenn wir jetzt die Zusagen, die öffentlich gemacht wurden, nicht einhalten würden. Im Übrigen ist es die Aufgabe des Bundestages, ständig zu überprüfen, ob das realistische Zusagen sind oder nicht.

Cicero: Teil des Strategiewechsels ist es, dass die Zivilbevölkerung geschont wird und die ISAF-Soldaten wieder mehr Präsenz im Land zeigen. Das heißt im Umkehrschluss, dass wieder mehr Soldaten bei Anschlägen sterben könnten. Sollte die deutsche Politik - egal ob Regierung oder Opposition - dieses Risiko nicht klar benennen?

Gernot Erler: Ich denke nicht, dass sich tatsächlich so viel ändern muss. Die Vorgehensweise vor Ort richtet sich stets nach der Sicherheitslage. In weiten Teilen im Norden sind normale Patrouillengänge und -fahrten möglich. Es wäre ja eine Missachtung des Schutzauftrages, wenn man die Soldaten einem unverhältnismäßig hohen Risiko aussetzen würde. Insofern braucht man die Verantwortlichkeit der lokalen Kommandeure, die die Sicherheitslage tatsächlich einschätzen können. Von einer öffentlichen Diskussion über veränderte taktische Vorgehensweisen verspreche ich mir nicht viel.

Cicero: Halten Sie es für richtig, dass künftig auch mit Taliban zusammengearbeitet werden soll?

Gernot Erler: Die Fragestellung ist irreführend. Man muss zwischen Taliban und Aufständischen unterscheiden. Unter Taliban verstehe ich Personen, die ideologische Hintergründe haben. Das andere sind junge Leuten, die sich aus irgendeinem Grunde mehr oder weniger als Mitläufer den Taliban angeschlossen haben - sei es aus Perspektivlosigkeit, Mangel an Arbeitschancen oder persönlicher Betroffenheit, weil Opfer in der eigenen Familie zu beklagen waren. Das sind aber keine Taliban. Es macht einen bestimmten Sinn, an afghanische Traditionen anzuknüpfen, die Jahrhunderte alt sind und die zur regionalen Konfliktbeendigung auf einen solchen Reintegrationsprozess setzen. Dieser Prozess ist auch mit materieller Vergütung verbunden. Die Vorstellung, man könne das Problem Taliban durch Kauf erledigen, halte ich aber für naiv.

Cicero: Hamid Karzai hat vor einem zu schnellen Abzug gewarnt und glaubt, dass Afghanistan noch bis zu 15 Jahre Schutz braucht. Warum will die SPD Afghanistan nicht so lange unterstützen?

Gernot Erler: Bei seiner Antrittsrede im November letzten Jahres hat Karzai versichert, dass er innerhalb von fünf Jahren die Führung bei allen Sicherheitsoperationen im Land übernehmen will. Das müssen wir ernst nehmen. Und er hat jetzt bei seinem Besuch in Berlin behauptet, dass 60 Prozent aller Polizeimaßnahmen schon heute unter afghanischer Führung durchgeführt werden. Wenn wir ihn beim Wort nehmen, müssten ausländische Soldaten ab 2014 nicht mehr für Kampfhandlungen benötigt werden. Aber auch die SPD hat gesagt, dass andere Aufgaben, wie die Unterstützung der Regierung und der Wiederaufbau über diesen Zeitpunkt hinaus erledigt werden müssen.

Cicero: Sie können sich also vorstellen, dass deutsche Soldaten auch nach 2015 mit anderen Aufgaben weiter in Afghanistan sind?

Gernot Erler: Unsere Ansage ist ganz klar. Wir wollen, dass in dem Zeitkorridor 2013 bis 2015 der Abzug der Bundeswehr vollzogen wird. Wenn wir auf andere Beispiele wie den Irak schauen, könnte man sich jedoch vorstellen, dass eine internationale Schutzmacht als Reserve im Hintergrund bleibt. Es ist aber völlig verfrüht, jetzt darüber eine Aussage zu machen, wie es dann mit einer eventuellen deutschen Beteiligung daran aussieht.

Cicero: Ein Enddatum des Einsatzes wurde bei der Konferenz ausdrücklich nicht festgelegt. Außerdem will die Bundesregierung 850 Soldaten mehr entsenden - alles keine SPD-Positionen. Wird die SPD im Bundestag dem neuen Mandat trotzdem zustimmen?

Gernot Erler: Wir haben festgestellt, dass die Bundesregierung gleich in mehreren Punkten demonstrativ auf die SPD zugegangen ist. Das nehmen wir zufrieden zur Kenntnis. Bei der Frage nach zusätzlichen Truppen fehlt uns noch eine detaillierte Erklärung, warum sofort zusätzliche 500 Kräfte entsandt werden müssen und 350 in Reserve gehalten werden sollen. Wir erwarten jetzt von der Bundesregierung, dass sie uns das im Detail erläutert. Davon werden wir die Entscheidung abhängig machen, ob wir dem Mandat zustimmen oder es ablehnen.

Cicero: Sie selbst haben jahrelang als Staatsminister im Auswärtigen Amt die Afghanistanpolitik maßgeblich mitgeprägt. Hätten Sie nicht schon Ihrer Zeit längst eine neue Strategie entwickeln müssen?

Gernot Erler: Es war der ehemalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der am 13. September 2009 das sogenannte 10-Schritte-Papier veröffentlicht hat. Genau das, was jetzt die Bundesregierung macht, lag seit September als Forderung auf dem Tisch. Wir haben also nicht gewartet, bis die neue Regierung kam, sondern schon in unserer damaligen Verantwortung genau in jene Richtung gedacht, in die sich heute die ganze Weltgemeinschaft orientiert.

Cicero: Glauben Sie eigentlich, dass ein SPD-Außenminister mehr auf der Konferenz erreicht hätte?

Gernot Erler: Herr Westerwelle konnte auf der Konferenz nicht mehr erreichen, weil die Bundesregierung sich selbst erst so spät entschieden hat. Dies bedauern wir sehr. Ansonsten hätte die Bundesregierung ihre Position aktiv in die Konferenzvorbereitung einbringen können. In dem Strategiepapier der Bundesregierung wurden Dinge festgelegt, die letztendlich gut in die Grundtendenz der Verhandlungspositionen gepasst haben. Eine deutsche Handschrift war bei der Londoner Konferenz aber nicht festzustellen.

Cicero: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Marc Etzold