Interview in der Badischen Zeitung, 2. Oktober 2009

Der Neuanfang wird nicht leicht

FREIBURG. Wohin steuert die SPD? Soll die Partei nach ihrer Niederlage bei der Bundestagswahl einen Links-Kurs einschlagen oder lauern hier neue Gefahren für eine Volkspartei? Darüber und über die Lage bei den Sozialdemokraten in Baden-Württemberg sprach Thomas Fricker mit Gernot Erler. Der einzige Gewinner eines Direktmandats für die SPD in ganz Süddeutschland war bisher Staatsminister im Auswärtigen Amt.

BZ: Herr Erler, herzlichen Glückwunsch zum Freiburger Direktmandat.

Erler: Vielen Dank. Ich habe mich sehr über den Gewinn des Direktmandats gefreut. Leider wird das völlig überlagert von der Traurigkeit darüber, dass es etliche Kolleginnen und Kollegen auch aus der Region nicht geschafft haben, und von der Bestürzung über das historisch schlechte Abschneiden der SPD.

BZ: Wo steht die SPD denn jetzt nach diesem Desaster?

Erler: Die SPD hat jetzt die schwierige Aufgabe, nach elf Jahren an der Regierung den Weg in eine neue Oppositionsrolle zu finden, und zwar stark geschwächt. Wir haben mit 76 Mandaten mehr als ein Drittel der bisherigen Bundestagsfraktion verloren, darunter viele erfahrene und aktive Mitglieder. Der Neuanfang wird also alles andere als leicht.

BZ: Es gibt einen Umbruch in der Führung. Steht das Duo Sigmar Gabriel/Andrea Nahles als Vorsitzender beziehungsweise Generalsekretärin fest?

Erler: Zunächst einmal haben wir einen Fraktionsvorsitzenden, Frank-Walter Steinmeier, der mit mehr als 88 Prozent gewählt worden ist. Damit sind wir an dieser wichtigen Stelle verhandlungs- und arbeitsfähig. Was die Verjüngung der Parteispitze anbelangt: Ich glaube nicht, dass es da noch Überraschungen geben wird.


BZ: Auch eine inhaltliche Neuorientierung steht an. Viele fordern die Öffnung zur Linkspartei. Halten Sie einen solchen Kurswechsel für richtig?

Erler: Es wird sicherlich keine so große Abgrenzungsstrategie mehr geben können wie bisher. Aber trotzdem muss man zunächst einmal die Situation richtig analysieren. Wir haben zwei Millionen Wähler an die Nichtwähler verloren, wir haben eine Million an die Linkspartei abgegeben, aber auch insgesamt 1,4 Millionen Wähler an Union und FDP sowie etwa 700 000 an die Grünen. Das heißt, es gibt keine monokausale Erklärung. Die Normalität auch von Zusammenarbeit in der Opposition darf nicht zu einem Überbietungswettbewerb in linkspopulistischen Parolen werden. Das müssen wir unbedingt vermeiden.

BZ: Bei der Öffnung nach links geht es ja sehr stark um eine neue Machtoption. Aber was hieße das inhaltlich, zum Beispiel mit Blick auf Afghanistan?

Erler: Dass uns eine populistische 180-Grad-Wende nach der Parole "Jetzt sofort raus aus Afghanistan" überhaupt nicht nützen würde! Stattdessen müssen wir aufbauen auf dem, was wir in der Afghanistan-Politik in den vergangenen Jahren schon entwickelt haben und sehr deutlich erklären, wie wir uns einen möglichst schnellen Rückzug aus Afghanistan verantwortbar vorstellen. Das muss unser Unterschied sein etwa zur Linken.

BZ: Und wie steht es im Inland mit den Sozialreformen? Soll Hartz IV weg?

Erler: Wir werden uns nirgendwo so verhalten, dass es gedeutet werden kann als eine Zubewegung auf irgendeine Oppositionspartei. Wir müssen klarmachen, dass wir auch schon in der Vergangenheit Korrekturen und Verbesserungen aufgrund von Erfahrungen mit der Reform der sozialen Sicherungssysteme vorgenommen haben, und wir müssen auf diesem Weg weitermachen. Wir brauchen Verbesserungen, die andere sicher Kurskorrekturen nennen werden, aber eben nicht, weil wir auf irgendjemand zugehen, sondern weil wir das nach gründlicher Prüfung für richtig halten.

BZ: An welchem konkreten Punkt zum Beispiel?

Erler: Ich persönlich halte zum Beispiel eine verbindliche Kopplung der Rente mit 67 an tatsächliche Chancen von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf dem Arbeitsmarkt für erforderlich.

BZ: Warum sollen die Bürger künftig merken, was sie bisher nicht bemerkt haben?

Erler: Wir haben die Chance, dass das jetzt besser wahrgenommen wird. Das Handeln in der Regierung ist öfter unspektakulär und geht unter. Am Ende bleiben dann bloß noch Stichworte übrig wie Hartz IV oder die Rente mit 67, und Korrekturen kommen nie bei den Wählern an. Das ändert sich in der Opposition. Dort kann man nicht mehr handeln, sondern muss Vorschläge unterbreiten.

BZ: Opposition als Chance?

Erler: Was die Wahrnehmung angeht, ja.

BZ: Lassen Sie uns zur Situation der SPD in Baden-Württemberg kommen. Sie sind eines der letzten politischen Schwergewichte in der Landespartei. Müssten Sie nicht jetzt Verantwortung, also den Landesvorsitz übernehmen?

Erler: Dass mich in den vergangenen Tage sehr viele genau danach gefragt haben, ehrt mich natürlich. Aber wissen Sie, ich war 15 Jahre im Landesvorstand und 13 Jahre im Landespräsidium. Aus dieser Erfahrung heraus weiß ich, dass es ausgeschlossen ist, von Freiburg aus die Landespartei mit dem Zentrum in Stuttgart wirklich nach vorne zu bringen. Deswegen habe ich nach gründlicher Überlegung gesagt, dass ich das nicht machen kann.

BZ: Aber in die Suche nach einem Nachfolger für Ute Vogt eingebunden sind sie schon?

Erler: Ich werde mich in den nächsten Wochen aktiv einbringen in die Vorbereitung unseres Landesparteitages, der Ende November in Karlsruhe stattfindet. Wir werden eine gute Lösung finden, die nicht wieder eine Übergangslösung sein darf.

BZ: Haben Sie dafür schon einen Namen im Kopf?

Erler: Wenn das so wäre, dann wäre ich sehr diszipliniert und würde diesen Namen momentan für mich behalten

BZ: Was muss sich ändern im Land?

Erler: Es muss Schluss sein mit Beschlüssen, die irgendwo gefasst und von der Basis nur noch gegengezeichnet werden sollen. Das ist die wichtigste Erfahrung, die ich in den letzten schmerzlichen Tagen gemacht habe.