Gernot Erler zur Eskalation der Gewalt im Kaukasus

Interview mit sueddetsche.de, 9. August 2008 

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt, analysiert, warum es trotz internationaler Vermittlung zum Krieg um Südossetien gekommen ist.
Interview: O. Das Gupta

sueddeutsche.de: Herr Erler, seit gestern eskaliert die Lage im Kaukasus. Wie bewerten Sie die Situation?

Gernot Erler: Die Nachrichtenlage ist recht unübersichtlich, was die militärische Situation angeht. Aber eines steht fest: Es ist eine Tragödie für die Zivilbevölkerung.

sueddeutsche.de: Russische Panzer rollen nach Südossetien, das nach wie vor ein Teil Georgiens ist - ein Völkerrechtsbruch. Kann aus dem Regionalkonflikt eine Weltkrise werden?

Erler: Man muss vorsichtig sein mit vorschnellen Bewertungen. Sicher ist: Es gab eine Eskalation wechselseitiger Provokationen, die gegen das Waffenstillstandsabkommen von 1992 verstoßen haben.

sueddeutsche.de: Diese Abmachung regelt auch die Anwesenheit russischer Friedenstruppen in Südossetien, die schon am Freitag von georgischen Einheiten angegriffen wurden.

Erler: Moskau wurde durch diesen Umstand das Argument geliefert, zu intervenieren - um die eigenen Friedenstruppen zu schützen. Immerhin war Russland mit seiner 500 Mann starken Friedenstruppe mitverantwortlich für den Waffenstillstand.

sueddeutsche.de: Der Konflikt im Kaukasus ist nach den Worten von Georgiens Präsidenten Saakaschwili ein "Krieg" - das klingt nach einem Konflikt mit schrecklichem Expansionspotential.

Erler: Es ist richtig: Dieser Konflikt kann sich ausweiten. Inzwischen scheint es ja auch russische Luftangriffe weit entfernt von Südossetien auf Ziele in Georgien zu geben.

sueddeutsche.de: Beobachter nennen Georgien den Vorposten der USA und sprechen nun von einem Stellvertreterkrieg. Haben Sie recht?

Erler: Ich kann mit diesem Begriff in diesem Kontext nichts anfangen. Richtig ist, dass es sehr enge Beziehungen zwischen den USA und dem neuen Georgien unter Michael Saakaschwili gibt und auch amerikanische Militärausbilder vor Ort sind, um die georgischen Streitkräfte zu beraten. Aber das was jetzt passiert, ist vermutlich alles andere als im Sinne der Vereinigten Staaten. Washington sieht das Gefahrenpotenzial dieses Konfliktes.

sueddeutsche.de: War es nicht absehbar, dass Georgiens Einmarsch in Südossetien eine militärische Reaktion Moskaus provoziert?

Erler: Eigentlich war klar, dass bei jedem militärischen Vorgehen gegen Südossetien die russischen Friedenstruppen mitbetroffen sein würden. Aber das ist eben das Problem, dass hier in den letzten Wochen eine Aufschaukelung von wechselseitiger Gewaltanwendung stattgefunden hat, die schrittweise außer Kontrolle geraten ist. Und leider haben es alle diplomatischen Bemühungen nicht vermocht, diese Eskalation der Unverantwortlichkeit zu verhindern.

sueddeutsche.de: Was meinen Sie damit?

Erler: Bei mehreren Gelegenheiten wurde deutlich, dass es konstruktive Vermittlungsansätze gibt. Die Beteiligten waren gar nicht so weit auseinander. Doch diese Ansätze wurden ausgehebelt durch Provokationen, durch Zwischenfälle, wo wir den Eindruck hatten, das mehrere Seiten beteiligt waren. Diese Eskalation der Unverantwortlichkeit hat zur Katastrophe geführt. All das, was die Vermittler jahrelang aufgebaut haben, wurde zerstört. Wenn der Pulverdampf verzogen ist, müssen wir uns fragen: Wie konnte das passieren? Wie konnte es zu einem solchen Gewaltausbruch kommen, trotz allen guten Willens von der OSZE, der Berater und Vermittler?

sueddeutsche.de: Kremlchef Medwedjew und sein Ministerpräsident Putin haben am Freitag in geharnischten Sätzen von "Vergeltung" und "Bestrafung" gesprochen. Wie kann die internationale Gemeinschaft erreichen, dass verbal abgerüstet wird und die Kämpfe enden?

Erler: Es gibt ja Appelle von allen Seiten, um unverzüglich einen Waffenstillstand zu ermöglichen. Erreicht kann das nur werden, wenn ein noch zu definierender Status quo ante wiederhergestellt wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die russische Seite eine erfolgreiche Militäraktion Georgiens akzeptieren würde. Ich hoffe sehr, dass eine mit möglichst hoher Autorität versehene Vermittlungsmission von UN, USA und EU Erfolg hat.

sueddeutsche.de: Wird Deutschland eine besondere Vermittlerrolle übernehmen?

Erler: Im Augenblick bemühen wir uns, im Kontakt mit allen Seiten etwas zu bewirken. Bundesaußenminister Frank Walter Steinmeier hat bereits gestern mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow gesprochen. Eine eigene deutsche Rolle gibt es im Südossetien-Konflikt bislang nicht, anders in Abchasien: Dort sind wir Koordinator von einer so genannten Freundesgruppe des UN-Generalsekretärs und bemühen uns um eine politische Lösung des Konflikts. Das war auch auf einem guten Weg. Doch nun wird alles überlagert von der dramatischen Entwicklung in Südossetien.

sueddeutsche.de: Deutschland hat in den rot-grünen Jahren ein besonders enges Verhältnis zu Russland entwickelt. Kann man damals entstandene Kontakte - beispielsweise von Altkanzler Schröder zu Russlands heutigem Premier Putin - nutzen?

Erler: Die Bundesregierung bemüht sich darum, die Gemüter zu beruhigen, damit an die Stelle einer hohen Emotionalität eine konstruktive Atmosphäre tritt. Es ist ja nach der dramatischen Entwicklung am Freitag auch nicht selbstverständlich, dass sich der deutsche Außenminister mit dem russischen berät. Es wäre allerdings eine Illusion zu glauben, dass die guten deutsch-russischen Beziehungen die entscheidende Rolle spielen können, auch wenn wir nichts unversucht lassen wollen.

sueddeutsche.de: Georgien möchte gerne in die Nato aufgenommen werden - wie verhält sich die Bundesregierung zu diesem Wunsch?

Erler: Dazu gibt es einen Beschluss des Bukarester Nato-Gipfels vom April. Sie besagt, dass Georgien noch nicht die Voraussetzungen erfüllt, den nächsten Schritt zum Membership of Action Plan zu machen. Von Zeit zu Zeit soll der Stand überprüft werden, als nächstes bei einem Außenministertreffen im Dezember. Aber ich denke, dass im Augenblick diese Frage von dem Gewaltausbruch überlagert wird.

sueddeutsche.de: Wäre, wenn Georgien schon in der Nato wäre, nun der Verteidigungsfall gegeben?

Erler: Das ist eine Spekulation, an der ich mich nicht beteiligen möchte. Wir sollten uns vor zu simplen Erklärungsmustern hüten. Besonders tragisch ist, dass in den letzten Tagen und Wochen noch einen diplomatischen Kanal gab. Es waren Dreiergespräche zwischen dem russischen Sonderbotschafter, dem georgischen Wiedervereinigungsminister und dem südossetischen Präsidenten vorgesehen. Aber das ist in letzter Minute an der ablehnenden Haltung der südossetischen Vertreter gescheitert. Die Konfliktparteien müssen wieder zu Verhandlungen zurückkehren. Dazu muss die Welt alle Autorität aufbieten, die sie zusammenbringen kann.