Zur Lage in Afghanistan: "Wir verzeichnen eine Zunahme der Gewalt"

16. August 2007 - Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt, über die verschärfte Sicherheitslage in Afghanistan und darüber, warum deutsche Einsatzkräfte auch weiterhin am Hindukusch stationiert bleiben müssen. Interview: Birgit Kruse, Süddeutsche Zeitung

sueddeutsche.de: Man hat den Eindruck, dass immer mehr Deutsche in Afghanistan ins Fadenkreuz der Terroristen geraten. Ist es wirklich gefährlicher geworden?

Gernot Erler: Seit etwa zwei Jahren verzeichnen wir eine Zunahme der Gewalt und der Anschläge in ganz Afghanistan, allerdings bei einem gleich bleibenden Gefälle zwischen dem Süden und Osten einerseits und dem Norden, wo Deutschland die Hauptverantwortung übernommen hat, und dem Westen andererseits, wo zusammen nur etwa zehn Prozent dieser Anschläge stattfinden.


sueddeutsche.de: Werden nun die Sicherheitsvorkehrungen für Deutsche in Afghanistan verstärkt - und wenn ja, wie?

Erler: Die Sicherheitsmaßnahmen sind ständig der Entwicklung der Lage angepasst worden. Gegen eine am Straßenrand versteckte ferngezündete Panzermine wird man sich aber auch in Zukunft nicht wirklich schützen können.

sueddeutsche.de: Immer wieder ist aber die Rede von einer Irakisierung Afghanistans. Trifft das zu?

Erler: Nein. Die Unterschiede überwiegen. In Afghanistan geht es darum, eine gewählte Regierung gegen Angriffe von Aufständischen und Terroristen, von denen viele von außen kommen, zu schützen. Typisch für den Irak ist dagegen eine sich selbst vermehrende Gewalt zwischen verschiedensten Gruppen der Gesellschaft, derzeit ohne Chance für ein Gewaltmonopol der Regierung.

sueddeutsche.de: Muss die Bundesregierung ihre Strategie in Afghanistan ändern? Also das Engagement der Bundeswehr im Süden verstärken und mehr Soldaten in das Land schicken?

Erler: Wir haben die Verantwortung für die Sicherheit in einem großen Teil des Landes übernommen. Längst wird anerkannt, dass der Erfolg aller Bemühungen der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan auch davon abhängt, dass wir dieser Verantwortung in der Nordregion weiter erfolgreich gerecht werden. Das Problem ist aber, dass der Aufbau und die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte hinter dem Plan zurückbleiben. Wir überlegen, ob und wie wir uns bei dieser Aufgabe stärker engagieren können.

sueddeutsche.de: Vereinzelt werden nun Stimmen laut, die Bundesregierung müsse sich ganz aus Afghanistan zurückziehen. Was entgegnen Sie den Kritikern des Einsatzes?

Erler: Auch nach dem tödlichen Anschlag vom 15. August sehe ich eher einen politischen Konsens, sich jetzt nicht aus der Bahn werfen zu lassen und den Einsatz in Afghanistan fortzusetzen. Ein Rückzug aus Afghanistan würde den jahrzehntelangen Bürgerkrieg ins Land zurückbringen und weltweit die Sicherheitslage dramatisch verschlechtern - auch bei uns in Deutschland!

sueddeutsche.de: Wäre es nicht wenigstens sinnvoll, zivile und militärische Einsätze strikt voneinander zu trennen, wie es Ärzte ohne Grenzen nun fordern?

Erler: Kennzeichen der deutschen Politik in Afghanistan ist der zivil-militärische Gesamtansatz, also mit den Bundeswehrsoldaten im Rahmen der ISAF-Mission ein sicheres Umfeld zu schaffen, in dem sich dann Aufbau- und Infrastrukturmaßnahmen, die Hilfstätigkeit der internationalen Organisationen und NGOs sowie normales Verwaltungs- und Regierungshandeln geschützt und sichtbar entwickeln können. Ich kenne keine vernünftige Alternative zu diesem Ansatz.

sueddeutsche.de: Wie gehen die Deutschen mit der erhöhten Gefährdungslage in Afghanistan um - die psychische Belastung wächst ja von Tag zu Tag?

Erler: Natürlich löst jeder Anschlag zunächst einen Schock aus, und wir leisten dann Hilfe, um diesen zu überwinden. Die Erfahrung - auch nach dem tödlichen Anschlag vom 19. Mai gegen drei Bundeswehrsoldaten - zeigt aber, dass dann gerade auch die Reaktion der afghanischen Bevölkerung mit ihrer Anteilnahme und ihrer Sorge über einen eventuellen Abbruch der Hilfe bei vielen einen Effekt der Entschlossenheit und des Trotz-allem-Weitermachens auslöst.

sueddeutsche.de: Wie lange werden Deutsche noch Aufbauhilfe in Afghanistan leisten müssen?

Erler: Unser Engagement kann erst reduziert werden, wenn die gewählte afghanische Regierung sich mit ihren eigenen Sicherheitskräften erfolgreich gegen die Angriffe der Aufständischen und der Terroristen schützen kann. Deswegen verstärken wir auch, wie jetzt mit der EU-Polizeiausbildungsmission, unsere Bemühungen um die raschere Aufstellung und Ausbildung dieser Sicherheitskräfte.