Reformprozesss in der Türkei gerät ins Stocken
Moderation: Marie Sagenschneider
Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag und designierte Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler, hat an die Türkei appelliert, die Chancen für einen EU-Beitritt zu nutzen.
Der dreitägige Besuch des türkischen Außenministers Gül in Deutschland und sein Treffen mit der künftigen Kanzlerin Merkel sei eine gute Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass die Fortschritte in den Beitrittsverhandlungen ausschließlich von der Türkei abhingen, sagte Erler im Deutschlandradio Kultur.
Sagenschneider: So lange ist es noch gar nicht her, dass Angela Merkel und der türkische Außenminister Abdullah Gül sich in der Wolle hatten. Es war im Sommer und es war Wahlkampfzeit, und da hatte die Union noch schwer gegen einen EU-Beitritt der Türkei mobil gemacht. Inzwischen musste sie sich mit der SDP auf einen Kompromiss verständigen. So ist es nun mal in einer großen Koalition, und dieser Kompromiss lautet wörtlich, "Die am 3. Oktober 2004 aufgenommenen Verhandlungen mit dem Ziel des Beitritts, sind ein Prozess mit offenem Ende, der keinen Automatismus begründet und dessen Ausgang sich nicht im Vorhinein garantieren lässt". Tja, was sagt das eigentlich, und kann dieser Kompromiss dazu beitragen, dass die Stimmung etwas besser ist, wenn sich heute Angela Merkel und der türkische Außenminister in Berlin treffen? Darüber wollen wir nun im Deutschlandradio Kultur mit Gernot Erler sprechen. Er ist stellvertretender Fraktionschef der SPD und designierter Staatsminister im Auswärtigen Amt, guten Morgen, Herr Erler.
Erler: Guten Morgen, ich grüße Sie.
Sagenschneider: Wie ist denn diese Passage im Koalitionsvertrag zu werten? Als Rückzieher der Union?
Erler: Es ist eine Verständigung auf die Fakten, denn, wie Sie eben schon gesagt haben, das ist ja die Beschreibung der Lage in der EU. Die EU hat nun mal beschlossen, am 3. Oktober diese Verhandlungen aufzunehmen, und daran kommt natürlich auch die bisherige deutsche Opposition nicht vorbei, und sie hat eben beschlossen bei unseren Gesprächen, diese Fakten auch anzuerkennen.
Sagenschneider: Allerdings, wenn die Türkei die Bedingungen nicht erfüllt, ein Beitritt nicht zustande kommt, dann wird sich auch die SPD überlegen müssen, was denn ein privilegiertes Verhältnis der Türkei zur EU, was das bedeuten soll. Denn das wäre ja dann die Alternative, wie sie auch im Koalitionsvertrag festgelegt ist. Was wäre denn dann unter einem privilegierten Verhältnis zu verstehen?
Erler: Na ja, das ist ja sozusagen eine Aussage darüber, was für den Fall des Scheiterns passiert. Man könnte das eigentlich sogar als sorgenvolle Vorsorge bezeichnen für diesen negativen Fall. Also auch dann will man, und das haben wir verabredet, dass es eine besondere Beziehung zwischen der Türkei und der EU gibt, also auch dann soll es eben intensive Beziehungen zwischen der Union, der Europäischen Union, und Istanbul geben und insofern versteckt sich hier so ein bisschen der Begriff privilegierte Partnerschaft. Wenn man es aber richtig liest, ist es fast ein Eingeständnis, dass es schon jetzt diese privilegierte Partnerschaft gibt...
Sagenschneider: Eben, deswegen fragt man sich ja immer, was das soll.
Erler: ...und die soll dann eben auch nicht verloren gehen, in diesem Fall, dass die Verhandlungen scheitern.
Sagenschneider: Angesichts des Weges, den die Union jetzt doch in rasanter Zeit, nämlich während der Koalitionsverhandlungen, zurückgelegt hat, glauben Sie, es wird mit der Union auch zu machen sein, den Reformprozess in der Türkei voranzutreiben oder rechnen Sie da eher mit Blockaden?
Erler: Nein, das steht ja auch deutlich drin in dem Text, dass dieser Reformprozess weiter gehen soll. Da steht drin, man begrüßt die bisherigen Reformanstrengungen, und dann heißt es wörtlich, wir wollen die demokratische, rechtsstaatliche und wirtschaftliche Entwicklung der Türkei, mit der wir auch in der NATO eng verbunden sind, nach Kräften fördern. Also daraus ergibt sich auch eine Verpflichtung, hier etwas zu tun und ich könnte mir vorstellen, dass die Begegnung heute von der designierten Kanzlerin Frau Merkel mit Herrn Gül sehr viel freundlicher vonstatten geht, als das vor einigen Monaten der Fall war.
Sagenschneider: Wie schätzen Sie denn den derzeitigen Reformprozess in der Türkei ein?
Erler: Es gibt schon einige Sorgen darüber, dass der Reformprozess ein bisschen ins Stocken geraten ist und das der Eifer, den wir vor der Entscheidung der EU gesehen haben, etwas nachlässt. Das hängt auch an einer Verschärfung der innenpolitischen Situation zusammen, bei dem auch die Regierung von Erdogan ein bisschen unter Druck geraten ist und sich stärker mit den Gegnern dieser EU-Integration, dieser Verhandlungen auseinander setzten muss. Aber die beruhigende Sache ist ja, dass das Verhandlungsreglement, was verabredet worden ist, so ist, dass eigentlich ein ständiger Druck auf die Türkei aufrechterhalten wird. Das heißt, jedes neue Kapitel, was da eröffnet wird, über das man redet, muss einstimmig am Anfang und einstimmig am Schluss beschlossen werden von den 25 Staaten der EU, und insofern weiß die Türkei über das Risiko, wenn es nicht weitergeht mit den Reformen.
Sagenschneider: Worin bestehen denn für Sie die noch kritischen Punkte? Oder anders gefragt: Auf welchen Felder ist die Türkei von den EU-Vorgaben am weitesten entfernt?