Ist die Türkei EU-Kompatibel? Interview mit Gernot Erler im WDR 5 Morgenecho, 2. September 2003

Ist die Türkei EU-Kompatibel?

Moderatorin (Cordula Denninghoff): Ich bin jetzt mit Gernot Erler verbunden. Er ist stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und zuständig für Außen- und Sicherheitspolitik. - Ist die Türkei EU-kompatibel?

Erler: Sie ist auf dem Weg dazu alle Anstrengungen zu machen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Und das müssen wir eigentlich sehr begrüßen. Das war immer ein Ziel europäischer Politik, solche Veränderungen in der Türkei zu erreichen. Und wir haben jetzt wichtige Zwischenschritte beobachten können, zum Beispiel Abschaffung der Todesstrafe, wirklich erste Maßnahmen gegen die Anwendung von Folter vor Ort, auch wenn das in der Tat noch nicht hundertprozentig umgesetzt wird, und zuletzt sogar eine Kontrolle der Parlamente über das Militär. Das waren wichtige Forderungen immer von Deutschland und Europa an die Türkei.

Moderatorin: Aber es gibt auch andere Kriterien, die eigentlich erfüllt werden müssten und von denen die Türkei noch wirklich meilenweit entfernt ist, zum Beispiel die Wirtschaftsdaten sind doch katastrophal. Die Türkei erwirtschaftet 22 Prozent dessen, was die EU pro Kopf erwirtschaftet. Polen kommt da immerhin auf 40 Prozent.

Erler: Ja, deswegen ist es ja auch überhaupt nicht eine Frage der nächsten Monate oder sogar des nächsten Jahres, wenn es zu diesem Beitritt kommen könnte, sondern die EU-Kommission wird Ende nächsten Jahres einen Bericht über den Fortschritt in der Türkei vorlegen. Und dann wird die Europäische Union erst entscheiden, ob überhaupt Verhandlungen aufgenommen werden. Diese Verhandlungen haben bei den anderen Beitrittsländern mehrere Jahre gedauert. Das heißt, wenn jetzt hier einige polemisch behaupten, es gehe jetzt im Augenblick darum, ob die Türkei der EU beitritt, dann übersehen sie geflissentlich diesen Zeitplan.

Moderatorin: Sind der Türkei möglicherweise auch leichtsinnig Hoffnungen gemacht worden, weil niemand geglaubt hat, dass sie verschiedene Kriterien je erfüllen wird? Also war es so ein bisschen, ja, ich sage mal, die Lebenslüge deutscher und europäischer Politik?

Erler: Nein, ich glaube nicht. Die Türkei hat schon seit 1963 - das muss man sich mal vorstellen - im Grunde genommen eine Beitrittsperspektive. Und seitdem ist immer wieder versucht worden, diese Perspektive zu nutzen, um eben einen gesellschaftlichen und politischen Wandel in der Türkei herbeizuführen. Das ist lange Zeit genug nicht erfolgreich gewesen. Aber inzwischen ist für die Türkei und ihre Zukunft diese Perspektive EU so attraktiv geworden, dass es eine Mehrheit in der politischen Gesellschaft der Türkei gibt, die tatsächlich diese sehr hoch gelegten Latten überspringen wollen, die die EU da aufgelegt hat. Und das können wir doch nur begrüßen. Das bedeutet, dass eben die Türkei tatsächlich zu einem Land wird, das sehr wichtige Kriterien für die internationale Politik, was Menschenrechte angeht, was Partnerschaftsfähigkeit, was ökonomische Kraft angeht, versucht zu erfüllen. Und das ist ein Prozess, da ist es geradezu dumm, wenn man den torpediert.

Moderatorin: Aber andererseits erfüllt die Türkei ja diese Kriterien nicht ökonomisch, ...

Erler: Noch nicht!

Moderatorin: ... wäre es jedenfalls das schwächste Mitglied. Und was die Bevölkerung angeht, das größte. Wie groß ist denn das Risiko für die EU, sich einen solchen Partner zuzulegen?

Erler: Das hängt doch von dem Zeitplan ab. Natürlich, wenn man auf die Idee käme, morgen die Türkei einzuladen in die EU einzutreten, hätten wir ein ernsthaftes Problem. Aber das will ja überhaupt niemand. Ich will noch mal wiederholen: Das wird überhaupt erst Ende nächsten Jahres entschieden, ob Verhandlungen begonnen werden. Und dann wird es Jahre dauern, bis diese Verhandlungen zum Abschluss kommen. Genügend Zeit für die Türkei, auch die ökonomischen Verhältnisse zu verbessern. Es macht ja auch gar keinen Sinn, ein Land in die EU reinzulassen, dass da nicht konkurrenzfähig ist. Das würde einen Riesenschaden für die Türkei bedeuten. Das kann die Türkei gar nicht wollen. Das heißt, als Erstes müssen natürlich Grundvoraussetzungen geschaffen werden, die zum Teil heute noch nicht bestehen. Aber die wichtige und gute Nachricht ist doch, dass sich die Türkei bemüht, und zwar mehr als in der Vergangenheit, besonders auch unter der neuen Regierung, diese Bemühungen verstärkt hat, diese Kriterien tatsächlich zu erfüllen.

Moderatorin: Mit eine potenziellen EU-Mitgliedschaft wäre dann ja auch Freizügigkeit verbunden. Sind Sie sicher, dass das in einigen Jahren von der EU zugelassen werden kann?

Erler: Wir wissen, dass es bei dem bisherigen Beitrittsprozess hier wichtige Erfahrungen gibt, zum Beispiel, dass es ja möglich ist, gerade diese Freizügigkeit mit Übergangsfristen zu versehen. So passiert es jetzt mit Polen, so passiert es mit anderen Ländern. Da gilt das Gleiche, dass hier ja auch noch ein Angleichungsprozess, was die wirtschaftliche Kraft und natürlich auch die Erwerbsmöglichkeiten für die Menschen angeht, geleistet werden muss. Das Modell könnte man im Falle, dass sich die EU im nächsten Jahr positiv entscheidet und wirklich Verhandlungen anstrebt, natürlich zum Gegenstand dieser Verhandlungen machen, dass man solche Übergangsfristen, die ja auch länger dauern können, durchaus einbauen kann.

Moderatorin: Aber dieser Angleichungsprozess muss der nicht auch im Hinblick auf die Integration stattfinden? Und da haben ja nun viele europäische Ländern in den letzten Jahrzehnten die Erfahrung gemacht, dass die Integration nicht immer funktioniert. Und wenn man dann ein so großes Land in die EU aufnimmt, dann würde man ja die bisher willige Bereitschaft zum Zusammenleben einer extremen Belastungsprobe aussetzen.

Erler: Selbstverständlich. Deswegen ist ja auch eines der Kopenhagener Kriterien die Integrationsfähigkeit der Europäischen Union, und die ist ernst zu nehmen. Dieses Kriterium ist ernst zu nehmen. Es kann durchaus sein, dass an einem zweiten Punkt ein solcher Beitrittsprozess nicht weiterkommt, nämlich nicht an den Fähigkeiten der Türkei, sondern an den Fähigkeiten der EU, tatsächlich - ich sage mal salopp - einen solchen großen Brocken, denn die Türkei ist natürlich ein sehr großes und bevölkerungsreiches Land zu integrieren. Aber das entscheidet man nicht in München, und das entscheidet man auch nicht an den Stammtischen, sondern das ist eine Frage, die erst nach den ersten Erfahrungen des Beitrittsprozesses im Mai 2004, also im nächsten Jahr, stattfinden wird, wenn wir dann 25 Mitglieder der EU haben. Erst dann wird ja auch die Entscheidung getroffen, ob man überhaupt in Verhandlungen eintritt und die ersten Erfahrungen dann auch vorliegen.

Moderatorin: Vielen Dank. - Ist die Türkei EU-kompatibel? Antworten von Gernot Erler, dem stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion.