Merkels Türkei-Brief: Schlingerkurs der Union immer offensichtlicher
Zu den unterschiedlichen Äußerungen der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel und des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Volker Rühe, bezüglich einer EU-Mitgliedschaft der Türkei erklärt der Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler:
Es kommt schon einem Stück aus dem Tollhaus gleich: Da schreibt die CDU-Parteivorsitzende Angela Merkel einen Brief an ihre konservativen Parteifreunde im europäischen Ausland, um sie auf einen Anti-Türkei-Kurs einzuschwören und am gleichen Tag spricht sich einer der führenden Außenpolitiker der Union, Volker Rühe, explizit für einen EU-Beitritt der Türkei aus.
Doch wie will Frau Merkel für eine einheitliche Haltung unter ihren europäischen Partnern werben, wenn sie es noch nicht einmal schafft, innerhalb der eigenen Partei für eine klare Position zu sorgen?
Dabei hat Volker Rühe Recht, wenn er darauf hinweist, dass es die Kohl-Regierung im Jahr 1997 war, die der Türkei die Option für einen späteren Beitritt offengelassen hat. Vor dem Hintergrund zahlreicher Fortschritte der Türkei auf den wichtigsten Politikfeldern in den zurückliegenden Jahren ist Frau Merkel der Öffentlichkeit eine Erklärung darüber schuldig, warum 1997 die Regierung Kohl, der sie damals selbst angehört hat, der Türkei prinzipiell die Türen offen gelassen hat und ihr heute - trotz der eindeutig positiven Entwicklung - auf einmal die Tür vor der Nase zugeknallt werden soll.
Sind außenpolitische Zusagen, wenn sie von Unionspolitikern kommen, nichts mehr Wert? Die angebliche außenpolitische Zuverlässigkeit, derer sich die Union immer rühmt, wird auf diese Weise ad absurdum geführt. Einmal mehr zeigt sich, dass Außenpolitik in den Händen der Union die Verlässlichkeit Deutschlands in der Welt stark gefährdet.
Dabei geht es in der augenblicklichen Situation allein um die Frage, ob mit der Türkei im kommenden Jahr Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden oder nicht. Die Frage eines konkreten Beitrittsdatums steht frühestens in zehn bis zwölf Jahren auf der Tagesordnung und nicht heute, wie es die Unionsvorsitzende suggeriert.
Schon heute sehen wir, welche Früchte der gesamteuropäische Druck auf die innere Entwicklung der Türkei gehabt hat. Dieser Prozess ist noch längst nicht abgeschlossen, aber es fällt nicht schwer vorherzusehen, dass in dem Augenblick, in dem der Türkei jegliche Beitrittsperspektive genommen wird, der innenpolitische Reformeifer schlagartig nachlassen würde. Zugleich würden sich all diejenigen Kräfte innerhalb der Türkei bestätigt sehen, die Europa skeptisch gegenüberstehen. Wohin sich die Türkei dann langfristig entwickeln würde, ist heute noch nicht auszumachen.
Wir dürfen diese einmalige historische Chance, die mit dem Beginn von Beitrittsverhandlungen verbunden ist, nicht leichtfertig vertun. Denn, wer die Tür zuschlägt, muss auch wissen, wie er sie wieder aufbekommt.