Breite Zustimmung für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
Stefan Heinlein: Das erste Reifezeugnis ist geschafft, doch vor der Versetzung in die nächste Klasse müssen noch einige Prüfungen bestanden werden. Mit der Empfehlung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei präsentierte die EU-Kommission gestern zwar das erwartete Ergebnis. Doch der Bericht ist auch ein Spiegelbild der deutlichen Skepsis gegenüber den türkischen Reformen. Für einige Jahre ist Ankara de facto ein Verhandlungspartner auf Bewährung. Nur bei einem nachhaltigen Erfolg der Reformen kann am Ende die Vollmitgliedschaft in Brüssel stehen. So die deutliche Position der EU-Kommission. Dennoch zweifelt niemand daran, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs kurz vor Weihnachten ein konkretes Datum für den Beginn der Verhandlungen bestimmen werden. Die Diskussion um die Auslegung des Kommissionsberichtes ist jedoch erst am Anfang. Bei mir am Telefon ist nun SPD-Fraktionsvize Gernot Erler. Guten Morgen!
Erler: Guten Morgen, ich grüße Sie!
Heinlein: Herr Erler, die Türkei will eine volle Ehe. Kann es noch zum Ehebruch kommen?
Erler: Nein. Das steht auch so nicht in diesem sehr klugen Bericht, der ja eine ganze Reihe von Rückversicherungen für diesen Verhandlungsprozess nennt. Aber gerade was die Offenheit angeht, da steht ganz vorsichtig formuliert: Man kann für den Erfolg der Verhandlungen keine Garantie übernehmen, was eben gerade nicht heißt, dass es verschiedene Möglichkeiten am Ende vom Ergebnis gibt, sondern nur, dass es eben länger dauern kann und dass durchaus auch sein kann, dass an irgendeiner Stelle vielleicht im Einvernehmen oder durch einen Bruch von sehr wichtigen Prinzipien eine Unterbrechung stattfindet. Aber an der eigentlichen Zielsetzung Mitgliedschaft gibt es auch in dem Bericht überhaupt keinen Zweifel.
Heinlein: Warum diese strengen Auflagen, warum diese Rückversicherungen, wie Sie sagen? Ist die EU-Kommission, sind die Europäer noch nicht restlos überzeugt von der Nachhaltigkeit des türkischen Reformprozesses?
Erler: Ich glaube das hängt auch damit zusammen, dass man ja im Grunde genommen bei so einem Beschluss eine Voraussage für 15 Jahre machen muss. Es gibt ja da Einigkeit - das steht in dem Bericht drin - zum Beispiel darin, dass die finanziellen Rahmenbedingungen erst in dem Budget ab 2014 geregelt werden können. Das schlägt sich darin nieder, dass auch Ministerpräsident Erdogan selber davon ausgeht, dass es nicht vor 2019 zu einem tatsächlichen Beitritt kommt. Wir müssen also hier Prognosen für anderthalb Jahrzehnte machen und es ist ja klar: In dieser Zeit wird es höchstwahrscheinlich auch in der Türkei zu einem politischen Wechsel kommen oder zu mehreren. Niemand weiß, wer dann die Verhandlungen dort führen wird, wie dann die Mehrheiten für die Fortsetzung der Reform sind. Auch die EU wird sich in 15 Jahren stark wandeln, so dass man hier einfach einige Sicherheiten eingebaut hat, zum Beispiel eben für den Fall, dass plötzlich der Reformeifer dort stark erlahmt oder dass plötzlich wieder ernsthafte Menschenrechtsverletzungen passieren. Dann steht sogar der Begriff Suspention hier in dem Drei-Säulen-Modell, das die Kommission von Verheugen dort vorgelegt hat. Das ist doch glaube ich eine vernünftige Brücke auch für die ganzen Skeptiker, die genau auf diese Möglichkeiten von substanziellen Veränderungen des Partners auch im negativen Sinne hingewiesen haben und gesagt haben wer ist denn sicher, dass das alles so gut weitergeht wie das, was die Reformen angeht, in den letzten Jahren unter Ministerpräsident Erdogan vorangeschritten ist.
Heinlein: Wer wird denn jetzt, Herr Erler, in den nächsten 15 Jahren bis zum Jahr 2019 die europäische Kontrollfunktion in der Türkei übernehmen? Wie muss man sich das praktisch vorstellen?
Erler: Da hat die Kommission finde ich auch konkrete Vorschläge gemacht. Es wird eben ein strengeres Monitoring geben. Das ist diese erste Säule, die sich auch darauf bezieht was die Umsetzung angeht. Es wird also eine innerstaatliche Konferenz geben, die speziell über die Erfüllung der Reformauflagen wachen wird und die eben auch diese Sicherheitsmaßnahmen treffen wird, unter anderem lange Übergangszeiten zum Beispiel für die Freizügigkeit von Arbeitnehmern. Schließlich - und das ist die dritte Säule - soll es einen Dialog zwischen den Gesellschaften geben, einen politischen und kulturellen, wo besonders auch die Zivilgesellschaft angesprochen wird. Das ist mehr als es bisher bei den Verhandlungen gegeben hat, dass man auch darauf achtet, dass es hier einen kulturellen Austausch über Lebensweisen und über politische Kultur geben soll. Das soll auch ein bisschen sozusagen die Verhandlungsebene zwischen den Regierungen und zwischen den jeweils offiziellen Vertretern des Landes ergänzen und das ist eigentlich auch ein kluger Vorschlag.
Heinlein: Herr Erler, Brüssel hat sich entschieden. Wir haben darüber geredet. Auch der Kanzler hat sich ganz klar festgelegt. Ihre Partei aber, die SPD, so scheint es, wird erst langsam wach und beginnt, über dieses Thema offen zu diskutieren. Haben die Genossen das Thema verschlafen?
Erler: Nein, das haben sie sicher nicht. Wir hatten ja schon mal das Thema sehr intensiv in der Wahlcampagne für die Europawahl. Da sah es ja lange so aus als ob die Konservativen das zu einem Wahlschlager machen wollten. Ganz so deutlich ist das dann nicht geworden. Aber damals haben wir uns auch intern schon sehr gründlich auf diese Diskussion vorbereitet. Aber das ist ja immer so im Leben: Wenn eine Entscheidung dann wirklich näher kommt, dann wachen viele wie Sie richtig sagen auf, die sich bisher nicht so intensiv damit beschäftigt haben, und melden sich auch zu Wort, zum Beispiel Abgeordnete, weil sie einfach zu Hause von Journalisten oder auch von ihren eigenen Mitgliedern gefragt werden, was sie denn nun davon halten. Dann wird es einem noch mal lebendig. Jetzt liegt der Kommissionsbericht aber vor und ich glaube der bietet sehr gute Ansätze, mit den Sorgen und Bedenken, die wir innerhalb der SPD und bei unserer Wählerschaft auch haben, umzugehen. Diese Rückversicherungen, diese Formulierung, die eben tatsächlich auf eine Bewährungsprobe für den Verhandlungspartner Türkei hinausläuft, die werden helfen als Brücke auch für die Skeptiker.
Heinlein: Herr Erler, haben Sie denn Verständnis für diese diffusen Ängste und Sorgen an der SPD-Basis und wie groß sind denn diese Bedenken? Kann man das in Zahlen nennen? Wie viel Prozent Ihrer Fraktion sind gegen einen türkischen EU-Beitritt?
Erler: Da lege ich mich gerne fest. Ich glaube, dass die Prozentzahl, die gegen Verhandlungen ist, bei uns verschwindend gering ist. Wir haben aber bestimmt zwischen 15 und 20 Prozent Leute, die Einwände haben, die Bedenken haben, die sagen wir möchten dabei auch auf Gefahren hinweisen. Ich bin sicher, dass diese Zahl durch die Einzelheiten des Berichtes, wenn sie sich damit vertraut machen und wenn wirklich die Staats- und Regierungschefs am 17. Dezember sich diesen Bericht in den Einzelheiten ansehen, in der Art, wie die Verhandlungen geführt werden können, wie lange das dauern wird, welche Sachen dabei beachtet werden müssen, wie streng hier auch die Türkei in ihrem Reformprozess beobachtet wird, deutlich geringer wird, denn das ist eigentlich schon die Antwort auf viele Sorgen, die man von dieser Seite oft hört.
Heinlein: Kurze Frage zum Schluss, Herr Erler. Die Union verlangt ja eine Bundestagsabstimmung über den türkischen EU-Beitritt. Wie wird sich Ihre Fraktion verhalten über dieses Ansinnen?
Erler: Ich begreife nicht, warum jetzt hier ein völlig anderes Verfahren als bisher gewählt wird. Wir wissen seit langem die Position der Bundesregierung. Es hat ja schon viele Abstimmungen und Regelungen 1997, 1999 und 2000 hier auch gemeinsam mit den konservativen Parteien gegeben. Für irgendeine Sonderregelung sehen wir keine Notwendigkeit.
Heinlein: SPD-Fraktionsvize Gernot Erler heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Herr Erler, ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören!
Erler: Danke Ihnen!