Die Sanktionen werden den Konflikt nicht lösen

Zeit online, 1. August 2014 

Die neuen Strafmaßnahmen gegen Russland waren unvermeidlich. Aber eine politische Lösung der Ukraine-Krise ist nur möglich, wenn auch Kiew die Waffen ruhen lässt. Ein Gastbeitrag von Gernot Erler

Wie soll der Westen auf den Abschuss der malaysischen Verkehrsmaschine und die anhaltende russische Unterstützung für die ukrainischen Separatisten reagieren? Welche Lösungen gibt es für den Ukraine-Konflikt? Wir haben Vertreter der Bundestagsparteien eingeladen, sich an der Debatte zu beteiligen. Bisher äußerten sich der Linken-Abgeordnete Stefan Liebich, die Grünen-Politikerin Rebecca Harms und der CDU-Außenpolitiker Karl-Georg Wellmann.

Der Westen hat reagiert. Fast zwei Wochen nach der MH 17-Tragödie haben die EU-Botschafter in Brüssel ein Sanktionspaket der Stufe 3 geschnürt, mit wirtschaftlichen und finanziellen Restriktionen. 

Dieser Schritt ist lange herausgeschoben worden. Zu Recht. Priorität hatte, gerade für die deutsche Politik, der Ansatz, über politischen Dialog zur Deeskalation des Konflikts zu kommen. Da gab es durchaus erfolgversprechende Schritte: Das "Agreement" des Weimarer Dreiecks vom 21. Februar 2014, das immerhin das Schießen auf dem Maidan beendete; das Genfer Treffen vom 17. April; die "Berliner Erklärung" der vier Außenminister vom 2. Juli mit der Verpflichtung auf eine dauerhafte Waffenruhe, die Verständigung auf die Beobachtermission der OSZE.  

Hinter all diesen Bemühungen, immer wieder vom deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier angekurbelt, steht eine feste Überzeugung: Es gibt keine militärische Lösung dieses Konflikts, sondern nur eine politische.

Bisher ist Russland dabei als Partner behandelt worden. Und das, obwohl die russische Führung sich zunehmend nicht partnerschaftlich verhielt, sondern in provozierender Weise gegen alle internationalen Regeln verstieß: die Annexion der Krim unter Bruch international gültiger, von Moskau unterschriebener Verträge; die bis heute andauernde Destabilisierung der Ukraine, besonders über die ständige Unterstützung der gewalttätigen Separatisten in Donezk und Luhansk mit Geld, Waffen und Söldnern; die in dieser Form noch nicht dagewesene Propagandaschlacht mit Desinformationen, Fakes und Lügen aller Art. Und dann die völlig inakzeptable Reaktion auf die MH17-Tragödie, mit der Null-Einwirkung auf die moskautreuen Separatisten, den mutmaßlichen Urhebern des Flugzeugabschusses, was den Schutz der Absturzregion und den Zugang für objektive Untersuchungen angeht. Das alles trotz gegenteiliger Beteuerungen und ergänzt durch die Beteiligung an den unwürdigen wechselseitigen Schuldzuweisungen.

Russland isoliert sich selbst

Weltweit besteht Einigkeit: Russland isoliert sich selbst, agiert ohne jede Rücksicht auf das eigene Ansehen, womöglich bereits als Folge von Fehleinschätzungen und Realitätsverlusten, die der eigenen Propaganda geschuldet sind. Wie kann der russische Präsident mehreren Staatschefs im Kontext des Flugzeugabsturzes feste Zusagen zum Umgang mit Opfern und Absturzstelle machen und dann, für jedermann sichtbar, einfach gar nichts tun? Und Außenminister Lawrow fragt dann auch noch ganz verdutzt, was wollt Ihr eigentlich von uns?

Aus diesem Blickwinkel werden die auf den Weg gebrachten Sanktionen der 3. Stufe nicht von der konkreten Erwartung begleitet, sie würden quasi mechanisch eine alsbaldige Wende in der russischen Ukraine-Politik bewirken. Sie quittieren eher ein tiefes politisches Zerwürfnis, das nach dem Todesflug der malaysischen Maschine am 17. Juli 2014 eine zusätzliche globale Dimension erreicht hat. Die gemeinsame Wahrnehmung von Unerträglichkeit überwand die Partikularinteressen innerhalb der EU und bahnte den Weg zu dem konsensualen Sanktionsbeschluss, den viele mit Fragen der westlichen Selbstachtung in Verbindung bringen.

Und wie jetzt weiter? Solche Isolierungsprozesse, einmal ausgelöst, tendieren zur Verselbständigung. Die deutsche Politik – sich dieser Gefahr bewusst – hat auf Befristung der Strafmaßnahmen bestanden. Aber wie jetzt die Zeit nutzen?

Immer noch gilt: Es gibt nur eine politische Lösung! Das muss die Botschaft in gleicher Weise an Moskau und Kiew bleiben. Da darf auch keine politische Lücke im Konzept entstehen. Jeder versteht, dass Präsident Petro Poroschenko nach der zehntägigen einseitigen Waffenruhe im Juni, die von den Separatisten in übler Weise missbraucht wurde, unter Druck steht. Aber er wird Frieden und nachhaltige Stabilität für die Ukraine nicht erreichen, wenn er versucht, das dem Staat zustehende Gewaltmonopol über einen Häuserkampf in den Großstädten Donezk und Luhansk ohne Rücksicht auf zivile Opfer zurück zu erobern. Und auch sein Außenminister hat am 2. Juli in Berlin das Ziel dauerhafte Waffenruhe gegengezeichnet. Hier muss die westliche Politik jetzt ansetzen.

Auch deshalb, weil wir uns keine Illusionen über das Verhalten von Präsident Putin gegenüber den Separatisten machen sollten. Die westlichen Forderungen sind klar und berechtigt: Kein Geld, keine Waffen, keine Söldner, dichte Grenzen! Aber ist vorstellbar, dass Putin dem folgt und dann zuschaut, wie seine Schützlinge von den ukrainischen Sicherheitskräften besiegt werden? 

Keine Sieger, keine Verlierer

Keine westliche Sanktion wird diese Wendung des Konflikts erzwingen, die übrigens auch keine Lösung von Dauer bieten würde. Meine persönliche Meinung ist: Gerade jetzt brauchen wir einen "Post-Berlin-Prozess": weiterer Ausschluss jeder militärischen Lösungsoption, sofortige überwachte Waffenruhe, Verhandlungen über eine politische Gesamtlösung zwischen allen Konfliktbeteiligten, humanitäre Soforthilfe und ein mittelfristiges Aufbauprogramm für die Ukraine in der Dimension eines Marschall-Plans.

Am Ende darf keiner als tatsächlicher oder gefühlter Verlierer vom Platz gehen. Eine Herkules-Aufgabe für die westliche Diplomatie, die – ich wiederhole das – bisher keineswegs ohne Aussicht gekämpft hat.