Von Deeskalation kann keine Rede sein

Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 4. März 2014

Herr Erler, die Krim-Krise ist nach Meinung vieler die schwerste in Europa seit dem Kalten Krieg. Glauben Sie, dass Putin Ernst macht und wir kurz vor einem Krieg um die Krim - oder sogar um die Ukraine - stehen? Oder ist Putins Verhalten nur Säbelrasseln?

Erler: Die Situation ist äußerst bedrohlich, weil die Lage auf der Krim jederzeit eskalieren kann. Dass Putin die Militärmanöver in Westrussland, nahe der Grenze zur Ukraine, jetzt beendet und die Soldaten in die Kasernen zurückbeordert hat, kann man höchstens als kleines Zeichen in Richtung Westen werten. Solange sich die russischen Truppen auf der Krim nicht in den vertraglich vereinbarten Standort in Sewastopol zurückziehen, kann von Deeskalation keine Rede sein.

Wird sich Putin auf die Krim beschränken, die er faktisch ja längst unter Kontrolle hat? Oder steht sie nur am Beginn eines „Feldzugs", der auch den Rest der Ukraine betreffen könnte?

Erler: Wenn wir nüchtern beobachten, was geschieht, dann sehen wir, dass sich der Weg der Eskalation auf der Krim auch in Städten wie Donetzk, Odessa oder Charkiw wiederholt: Auch dort kommt es zu Besetzungen von öffentlichen Gebäuden, auch dort fordern die Menschen den Anschluss an Russland. Der Kreml wiederholt damit quasi die Methoden des Majdan, den er so verachtet. Dass Russland jetzt einen Brief des abgesetzten Präsidenten Janukowitsch präsentiert hat und die Besetzung mit dessen „Hilferuf" begründet, lässt befürchten, dass er in nächster Zeit noch weitere „Hilferufe" aus anderen Teilen der Ukraine präsentiert. Damit könnte Moskau möglicherweise eine Intervention im ganzen Land begründen.

Könnte Putin die Gelegenheit nutzen, eine „Sowjetunion light" zu schaffen?

Erler: Wir wissen, dass Putin an die Neuordnung des postsowjetischen Raums unter Führung Moskaus denkt - während des letzten Wahlkampfes hat er die Idee einer eurasischen Union schon ziemlich konkret auf den Weg gebracht. Aber es ist klar, dass man eine solche Neuordnung nur im Einvernehmen mit allen anderen Ländern erreichen kann. Eine erzwungene Gemeinschaft ist nicht von Dauer - diese Erfahrung hat hoffentlich auch im Kreml genügend Anhänger.

Hat der Westen in dieser Situation überhaupt eine diplomatische Handhabe? Die bisherigen Schritte sind doch eher Nadelstiche, die Putin kaum beeindrucken dürften.

Erler: Ich glaube nicht, dass man durch Sanktionen quasi einen Hebel umlegen und Putin in die Knie zwingen kann. Er hat in der Vergangenheit nationalistische Geister gerufen und muss jetzt sein Gesicht wahren. Der innenpolitische Druck auf ihn ist immens. Trotzdem muss ihm klar sein, dass eine militärische Intervention oder sogar Okkupation der Ukraine Russland international isolieren würde. Auch Russland ist auf den Westen angewiesen. 75 Prozent der russischen Energieproduktion gehen in die EU, umgekehrt bezieht die EU ihre Energie zu einem Drittel aus Russland. Diese wechselseitige Abhängigkeit wäre zerstört, wenn Russland sich isolieren würde - mit dramatischen Folgen für beide.

Der Kreml droht damit, den Dollar als Reservewährung abzuschaffen, wenn die Vereinigten Staaten Wirtschaftssanktionen umsetzen - an einem Kalten Wirtschaftskrieg können doch beide Seiten kein Interesse haben.

Erler: Absolut nicht. Der Punkt ist ja: Auf jede Sanktion kann eine Reaktion der Russen folgen. Es wäre das Schlimmste in dieser Situation, jetzt  in einen Reaktionsautomatismus zu verfallen, von dem niemand weiß, wo er endet

Der Westen ist schon jetzt uneins, was die Härte der Reaktion angeht: Die Falken in Amerika fordern ein härteres Vorgehen, die Europäer bevorzugen eine mildere Gangart. Wie groß ist die Gefahr, dass Putin nicht nur die Ukraine spaltet, sondern auch den Westen?

Erler: Der Westen ist nicht gespalten, auch wenn es natürlich unterschiedliche Interessen gibt. Die Amerikaner haben die militärische Zusammenarbeit mit Russland eingefroren und behalten sich weitere Sanktionen vor, die EU agiert etwas vorsichtiger und denkt über eine Einstellung der Gespräche über Visaerleichterungen für Russland nach oder darüber, die Verhandlungen über das  Partnerschaftsabkommen zu unterbrechen. Ich glaube, der Weg der EU ist der richtige. Wir sollten nicht auf Sanktionen setzen, sondern auf die Intensivierung der Verhandlungen mit Russland.

Harte Sanktionen helfen dem Westen nicht?

Erler: Es ist nicht sinnvoll, milde und harte Sanktionen gegeneinander auszuspielen. Wir müssen unterscheiden zwischen Maßnahmen, die zu einem Gesprächsabbruch mit Russland aufrechterhalten und solchen, die zu deren Abbruch führen. Jede Reaktion, die Gespräche mit Russland unterbricht, ist in der derzeitigen Lage unverantwortlich. Deshalb bin ich froh, dass die Tür für den G8-Gipfel noch nicht endgültig zugeschlagen ist. Wir brauchen eine Chance für eine politische Lösung, auch wenn das Fenster dafür immer kleiner wird. Der Vorschlag von Außenminister Steinmeier der Einrichtung einer  Kontaktgruppe ist der richtige.

Welche Szenarien halten Sie im Moment für denkbar, für die Krim und die gesamte Ukraine?

Erler: Der „worst case" wäre, dass die angespannte Situation anhält und man nur noch auf den Moment wartet, an dem irgendjemand die Nerven verliert und es zu einem militärischen Aufeinandertreffen kommt. Ein anderes Szenario ist, dass Putin von der Ermächtigung des russischen Parlaments für einen Militäreinsatz Gebrauch macht und mit Truppen auf der Krim oder in der ganzen Ukraine interveniert. Die Alternative dazu ist, dass es nachhaltige und intensive Gespräche mit Russland in einer Kontaktgruppe gibt.

Könnte der Preis für die Deeskalation eine Rückkehr von Janukowitsch sein, also die Re-Installation einer prorussischen Regierung auf der Krim oder in der ganzen Ukraine?

Erler:Das dürfte für Russland der Ausgangspunkt in den Gesprächen sein. Der Kreml hat mehrfach verkündet, Janukowitsch sei der legitime ukrainische Präsident und seine Bereitschaft signalisiert, zu dem Abkommen vom 21./22. Februar zurückzukehren. Danach wäre Janukowitsch bis zur Wahl im Herbst weiter ukrainischer Präsident. Für die ukrainische Seite und den Westen ist das aber keine akzeptable Position.

Ist die Krim für die Ukraine, für den Westen dann überhaupt noch zu halten?

Erler: Im Augenblick ist noch alles offen, auch weil wir noch immer nicht wirklich wissen, was eigentlich die russischen Ziele sind: Geht es eher um die Nicht-Anerkennung des Majdan oder tatsächlich um die Sicherung von Territorien? Wenn Russland mit militärischen Mitteln Grenzen verschieben will, wäre das ein eklatanter Verstoß gegen alle bestehenden Verträge mit der Ukraine und geltendes Völkerrecht. Auch der Weg über ein Referendum, das nach der ukrainischen Verfassung überhaupt nicht zulässig ist, wäre gegen das Völkerrecht, darin sind sich alle Völkerrechtler einig. Sollte Russland dies trotzdem anstreben, würde der Konflikt endgültig eskalieren und Russland einen hohen Preis zahlen.

Hat die EU die symbolische wie strategische Bedeutung der Ukraine für Russland unterschätzt, als sie versuchte, sie enger an sich zu binden?

Erler: Diese Frage wird uns noch beschäftigen - wir werden darüber reden müssen, ob der Umgang der EU mit Osteuropa der richtige ist. Und das wohl noch vor der Unterzeichnung der Assoziationsvereinbarungen mit Moldawien und Georgien, die für den Sommer geplant ist. Aber jetzt, auf dem Höhepunkt der Krise, ist dafür nicht der richtige Zeitpunkt.