Sotschi und die Olympische Idee

Ein Gastkommentar von Gernot Erler für n-tv, 7. Februar 2014.

Jetzt beginnen sie, die XXII. Olympischen Winterspiele in Sotschi. Und wieder erleben wir etwas, das uns schon vertraut vorkommt: Die „Olympische Idee" des Barons Pierre de Coubertin vom „Treffen der Jugend der Welt" als „Fest des menschlichen Frühlings", das die Synthese von Körper und Geist anstrebt, Frieden und Völkerverständigung festigen und zum „Respekt vor universalen und fundamentalen ethischen Prinzipien" erziehen soll - diese Idee von Olympia kracht auf die Realität einer gigantomanischen und immer kostspieliger werdenden Massenveranstaltung, kommerzialisiert und medial vermarktet bis in den letzten Zipfel, für politische Instrumentalisierung offen und deshalb auch immer in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Soweit das Vertraute. Was Sotschi angeht, haben wir allerdings im Vorfeld der Spiele einen Wettbewerb an Negativberichterstattung erlebt - weit jenseits der bekannten Grundwidersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit von Olympia.

Die Kritik adressierte in erster Linie das Gastgeberland und seinen Präsidenten. In abendfüllenden Filmbeiträgen, zahlreichen Rundfunksendungen und ausführlichen Presseberichten sind wir vor allem über sechs problematische Aspekte von Sotschi unterrichtet worden: die massiven Naturzerstörungen vor Ort beim Aufbau der Infrastruktur und der Sportstätten, die Rekordkosten verbunden mit vermuteten Korruptionsvorgängen, die schlechte Behandlung und unregelmäßige Bezahlung der eingesetzten Wanderarbeiter, der unsensible Umgang mit dem tragischen Schicksal der Tscherkessen als ehemalige Bewohner der Region, die mangelnde Toleranz gegenüber Schwulen und Lesben, sichtbar in dem Gesetz zum Propagandaverbot von „nichttraditionellen sexuellen Beziehungen" gegenüber Minderjährigen vom Juni 2013, und schließlich die massiven und unübersehbaren Sicherheitsmaßnahmen mit Auswirkungen auf den Alltag jedes Sportlers und Gastes. 

So ist ein verdüstertes, einseitig negatives Bild entstanden. Sicher, manche Angriffsfläche hätte vom Veranstalter vermieden werden können. Warum etwa gab es nicht einen würdigen Akt der Erinnerung an das tragische Schicksal der Tscherkessen nach ihrer endgültigen Niederlage gegenüber dem russischen Imperium im Jahr 1864, genau vor 150 Jahren und genau auf der „Krasnaja Poljana" (der Roten Lichtung), wo heute die Sportstätten stehen? Warum wurden Behandlung und Bezahlung der eingesetzten Wanderarbeiter nicht besser kontrolliert? Und wieso nimmt es die russische Gesellschaft eigentlich mit einem Achselzucken hin, dass sich die Kosten für Sotschi mindestens vervierfachen und dass dabei offenbar „Abzweigungen" von Staatsgeldern eine gewichtige Rolle spielen?

Bei einem anderen Punkt würde man sich aber mehr Ausgewogenheit und Verständnis wünschen, nämlich der Sicherheit. Sotschi (und das wusste natürlich das IOC bei seiner Entscheidung von 2007) liegt in der Nähe des Nordkaukasus, jener so gefährlichen Brutregion von Dschihadismus und Terrorismus. Die Leute von Doku Umarow oder anderen Dschihad-Predigern haben bewiesen, dass sie überall in Russland zuschlagen können, zuletzt mit dem Doppelanschlag in Wolgograd Ende 2013 mit 34 Toten. Das war 600 km von Sotschi entfernt, wurde aber trotzdem als Kampfansage gegen Olympia gewertet. Am Ende zählt nur, ob der olympische Friede gewahrt werden konnte oder nicht. Die Verantwortung dafür trägt allein die russische Führung. Bei einem Anschlag käme das Thema „mangelnde Sicherheitsvorkehrungen" sofort auf die Tagesordnung. Und hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht - Deutschland weiß das seit München 1972.

Jetzt beginnt eine neue Phase. Die Athletinnen und Athleten sind in die drei olympischen Dörfer eingezogen. Die Mitglieder der 153-köpfigen deutschen Delegation haben sich äußerst positiv über ihre Unterkünfte, die Sportstätten und die Atmosphäre von Sotschi geäußert. Vielleicht erhalten wir jetzt auch andere Bilder von den Winterspielen. Die Menschen in Russland und erst recht im Kaukasus sind stolz auf ihre Gastfreundschaft. Und sie können leidenschaftliche „Mitfiebernde" werden, auf jeden Fall, wenn das Eishockey-Turnier beginnt. Fernsehrechte für Sotschi wurden an 200 Länder vergeben. Es ist nicht übertrieben, von einem Ereignis zu sprechen, bei dem die Welt in Russland zu Gast ist. Und das ist eine Welt, die gerne sportliche Wettkämpfe verfolgt, aber auch Neugier für das Gastland verspürt. Russland hat die Chance, der Welt etwas über sich selbst zu erzählen. Wir haben die Chance, mehr über dieses Land in unserer Nachbarschaft zu erfahren.

Bei all dem sollte die Olympische Idee nicht völlig aus dem Blickfeld geraten. Der von Pierre de Coubertin verlangte „Respekt vor universalen und fundamentalen ethischen Prinzipien" ermuntert durchaus dazu, in einen kritischen Diskurs mit dem Gastland zu treten - an Themen dazu fehlt es nicht. Das Gebot der Fairness gilt aber über die Wettbewerbe hinaus auch für diesen Diskurs. Und das „Fest des menschlichen Frühlings" sollte dabei auch zu seinen Rechten kommen.

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