Ich kann kein Tauwetter in Russland erkennen

Interview Die Welt, 18. Januar 2014

Gernot Erler soll im Auftrag der Bundesregierung die Beziehungen zu Russland und elf weiteren postsowjetischen Staaten koordinieren. Die Ernennung Erlers, der bis 2009 Außenstaatsminister war, ist auf Kritik gestoßen: Die Sozialdemokraten gelten als sehr nachsichtig, was problematische Entwicklungen vor allem in Russland unter Wladimir Putin betrifft. Das Gespräch führte Gerhard Gnauck.

Die Welt: Herr Erler, wie lautet die neue Bezeichnung des Amtes, das Sie antreten werden?

Erler: Vorläufig folgendermaßen: "Koordinator für Russland, Zentralasien und die Länder der Östlichen Partnerschaft".

Die Welt: Die Zivilgesellschaft taucht im Namen nicht auf?

Erler: Beauftragte dieser Art haben ja nicht eine diplomatische Funktion, sondern sollen den Dialog pflegen zwischen den Gesellschaften, mit der Zivilgesellschaft, natürlich auch mit der oppositionellen Zivilgesellschaft.

Die Welt: Sie haben 2013 in der "Zeit" einen Text geschrieben unter dem Titel "Schluss mit dem Russland-Bashing". Gibt es in Deutschland nicht eher massivste Lobbyarbeit für die heutige Kreml-Führung?

Erler: Hier stellt sich die Frage, wie es dann kommen kann, dass Russland sich ständig kritisiert und an den Pranger gestellt fühlt. So oder so, man muss sich auf die Frage einlassen: Wie geht man eigentlich mit so einem Partner um? Ich halte nichts von der Einteilung in Russland-Versteher und Russland-Kritiker. Ich glaube, man muss die andere Seite zuerst einmal richtig begreifen. Das schließt Kritik überhaupt nicht aus. Und es gibt ja bei uns eine kritische Wahrnehmung der Entwicklung. Die Stichworte: Umgang mit den Nichtregierungsorganisationen und Oppositionellen, mit Pussy Riot und Chodorkowski.

Die Welt: Sie haben 2003, als der Unternehmer und Putin-Kritiker Michail Chodorkowski verhaftet wurde, geschrieben, die Verhaftung könne ein Zeichen der Hoffnung sein auf ein sozial gerechteres Russland. Ist das auch heute noch Ihre Einschätzung?

Erler: Was ich damals meinte, war die Erwartung, dass Putin mit den Oligarchen bricht, anders als Jelzin, sein Vorgänger. Jelzin hat mit den Oligarchen sehr enge Beziehungen gepflegt. Putin hat das Signal gegeben, dass die Oligarchen keinen großen Einfluss mehr auf die Gesellschaft ausüben sollten. Das war die Diskussion von 2003, von der wir heute sehr weit entfernt sind. Ich glaube, die Amnestie in Sachen Chodorkowski und Pussy-Riot-Frauen steht im Kontext der kommenden Winterspiele in Sotschi und der Entschlossenheit von Putin, sie zu einem Erfolg zu machen. Ein neues Tauwetter kann ich da im Augenblick noch nicht erkennen. Aber es ist ja so, dass solche Fakten manchmal eine neue Eigendynamik auslösen, was ich mir wünschen würde.

Die Welt: Noch mal zur Wirtschaft. Der oft gepriesene deutsch-russische Handel ist seit Jahren kaum umfangreicher als jener mit Tschechien. Woran liegt das?

Erler: Das Volumen ist immer noch wesentlich, 2012 waren es 80,5 Milliarden Euro. Es gibt Leute, die haben ausgerechnet, dass 370.000 deutsche Arbeitsplätze von diesem Handel abhängen, und es gibt immerhin 6000 deutsche Firmen, die in Russland aktiv sind oder Partnerschaften haben. Und alle Beteiligten sagen, das Potenzial sei noch längst nicht ausgeschöpft. Vor allem, wenn es zu einem größeren Modernisierungsprojekt in der russischen Wirtschaft käme.

Die Welt: Der Europaabgeordnete und frühere Bürgerrechtler Werner Schulz sagt, Putin baue in Russland eine neue DDR auf mit dem Unterschied, dass weitgehende Reisefreiheit gewährt wird...

Erler: Ich kann diese Ähnlichkeiten der DDR mit der heutigen Russischen Föderation nicht so richtig nachvollziehen. Ich weiß auch nicht, ob solche Einschätzungen irgend etwas Positives bewirken können. Ich würde eher versuchen, mit der russischen Elite darüber zu sprechen, dass diese Gesellschaft eine Dynamik braucht, im Sinne einer Modernisierung der Wirtschaft, der Verwaltung. Rechtsstaat, eine starke Zivilgesellschaft, eine offene Diskussion über die Zukunft sind lebenswichtig für eine moderne Gesellschaft, gerade in der Konkurrenz mit China und anderen Staaten.

Die Welt: Putin hat 2013 über Russland und die Ukraine gesagt: "Wir sind ein Volk." Er will in diesem Jahr die Eurasische Union fertigstellen. Das ist traditioneller russischer Imperialismus. Moskau glaubt, Nationen gegen ihren Willen mit Druck zu einer Union zusammenführen zu können.

Erler: Wenn man sich die Dokumente der Eurasischen Union anschaut, fallen Ähnlichkeiten zur Europäischen Union auf. Wenn es also darum gehen würde, dass man Nachbarn und sich selbst davon überzeugt, dass man in einer Union Souveränitätsrechte abgeben und Abstimmungsmechanismen aufbauen muss, in denen man auch verlieren kann gegenüber einer Mehrheit der anderen Länder, dann wäre das ja eine Win-win-Situation. Mit Solidarität als Prinzip, mit einer tendenziellen Angleichung der Lebensstandards.

Die Welt: Aber das wird nicht eintreten. Nicht zu Lebzeiten Putins.

Erler: Ich verstehe Ihren Pessimismus, aber die Frage ist, ob nicht gerade ein Dialog dieses zum Thema machen sollte. Die Alternative wäre das klassische "Sammeln der russischen Länder". Das wäre die Restauration eines Dominiums, eines Imperiums. Ich kann mir nicht vorstellen, dass solch selbstbewusste Länder wie Kasachstan und die Ukraine so etwas mitmachen würden.

Die Welt: Westliche Politiker sehen es als ihr Recht und ihre Pflicht, innenpolitische Entwicklungen in Russland zu kritisieren. Müsste das nicht erst recht gelten, wo die Außenpolitik Russlands die Souveränität von Nachbarn infrage stellt? Die meisten deutschen Medien bezeichnen die Embargo-Maßnahmen Russlands, welche die Ukraine vom EU-Kurs abgebracht haben, zu Recht als Erpressung.

Erler: Die EU ist total frustriert über die jüngste Entwicklung rund um die Ukraine. Sie hat wahrgenommen, dass hier erheblicher russischer Druck ausgeübt wurde. Wir hatten in der Östlichen Partnerschaft den Ansatz, regionale Zusammenarbeit zu fördern, und es ist keine Grundlage für eine nachhaltige Zusammenarbeit, wenn man so interveniert, wie das von Russlands Seite passiert ist.

Die Welt: Was könnten Sie als Koordinator für die Zivilgesellschaft in der Ukraine tun?

Erler: Ein Koordinator ist zuständig für die Unterstützung von Dialogprozessen, von Austausch. Hier ist die Frage, was passiert in diesem Dreieck EU-Russland-Ukraine. Es gibt den Kiewer Wunsch, da auch trilateral zu arbeiten. Vielleicht ist es vernünftig, dann auch eine trilaterale Diskussion zu führen. Im Vorfeld, inoffiziell, könnte ich eine Rolle spielen, und es gibt auch erste Anfragen in dieser Richtung.

Die Welt: Angenommen, ein führender russischer Vertreter wiederholt die "Wir sind ein Volk"-These: Werden Sie das kommentieren oder mit Schweigen übergehen?

Erler: Das sollte man kommentieren, wenn es gerade gesagt worden ist. Dahinter steht eine russische Haltung, über die man reden muss, die Frage, wie das mit der Souveränität eines unabhängigen Nachbarlands ist. Es gab ja kritische Reaktionen darauf, als das gesagt wurde, da haben Sie recht. Aber die Frage ist jetzt, wie es weitergeht.

Die Welt: Zur Modernisierungspartnerschaft: Es gab den Anlauf von Merkel und Medwedjew. Doch danach zeigte Russland keine Bereitschaft, an der Lösung der eingefrorenen Konflikte mitzuwirken, etwa im Fall Transnistriens, das sich von Russlands Nachbarland Moldau abgespalten hat und von Moskau unterstützt wird.

Erler: Ich würde beide Themen trennen wollen. Die Modernisierungspartnerschaft war ein Angebot des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier und liegt weiter auf dem Tisch. Was Sie ansprechen, hatte den Kontext des Medwedjew-Vorschlags einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur. Darauf hat die Kanzlerin eine vernünftige Antwort gegeben: Dann probieren wir doch an einem Beispiel, wie das funktionieren könnte, nämlich am Beispiel Moldau/Transnistrien. Danach war aber alles sehr festgefahren. Immerhin gibt es jetzt die 5+2-Gespräche über Transnistrien wieder - vielleicht ein Hoffnungszeichen.

Die Welt: Was sind Ihre ersten Reisepläne im Amt?

Erler: Ich habe mich entschlossen, bei der Eröffnung der Deutschen Woche im April in Sankt Petersburg aufzutreten. Ich bin eingeladen worden.

Die Welt: Die frühere Bundesregierung hatte mit Staatsministerin Pieper eine Koordinatorin für die deutsch-polnischen Beziehungen. Gibt es bereits einen Kandidaten für die Nachfolge?

Erler: Soweit ich weiß, ist das noch offen.