Gernot Erler zur politischen Lage in Bulgarien

Interview in der Badischen Zeitung, 27. Juli 2013

Viele Bulgaren wollen nicht mehr länger Korruption und Vetternwirtschaft hinnehmen. Seit mehreren Wochen gibt es immer wieder Demonstrationen dagegen. Annemarie Rösch sprach darüber mit dem Freiburger Bundestagsabgeordneten und SPD-Vizefraktionschef Gernot Erler.

BZ: Mit dem EU-Beitritt 2007 sollten sich Korruption und Vetternwirtschaft erledigt haben. Was ist schiefgelaufen?

Erler: Bulgarien hat bei seinem Beitritt die Grundbedingungen der EU nicht erfüllt. Auch die nachholende Umsetzung der EU-Bedingungen gestaltet sich schwierig. Zwar hat man schon versucht, Korruption und Vetternwirtschaft einzudämmen, indem man EU-Gelder gesperrt hat, die Bulgarien dringend benötigte. Viel genutzt hat es allerdings nicht. In Bulgarien hat sich ein oligarchisches System entwickelt. Das heißt, viele alte Seilschaften sind heute am Werk, die noch auf die kommunistische Zeit zurückgehen. Sie nehmen Einfluss auf Gesetze, Regierungshandeln und politische Entscheidungen. Doch gegenüber der EU agieren die bisweilen ganz geschickt und verschleiern das.

BZ: Gibt es solche Seilschaften in allen Parteien?

Erler: Wir haben heute in Bulgarien eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die solche Seilschaften bei allen Parteien vermutet. Diese Seilschaften handeln zulasten der normalen Bevölkerung. Das heißt, dass zum Beispiel öffentliche Aufträge über solche Kanäle vergeben werden. Die direkte Einflussnahme ist allerdings zumeist schwer nachvollziehbar. Am 14. Juni hat die sozialistische Regierung allerdings den Bogen überspannt, als sie den Erben eines Medienimperiums zum Chef des Geheimdienstes machte: Jeder wusste, dass er dafür keine Qualifikation besitzt. Die Regierung revidierte die Entscheidung zwar sofort, aber der Bevölkerung hat es an diesem Punkt gereicht.

BZ: Erst kürzlich blockierten Demonstranten das Parlament, etwa 100 Abgeordnete saßen fest. Inwieweit könnten die Proteste auch in Gewalt umschlagen

Erler: Bisher war es eher eine friedliche Protestbewegung, ganze Familien nahmen daran teil. Was mich allerdings nachdenklich stimmt, ist die Tatsache, dass inzwischen davor gewarnt wird, auch Kinder mitzunehmen.

BZ: Was kann die EU dafür tun, dass es in Bulgarien doch noch zu einer Beilegung des Konflikts kommt?

Erler: Die EU sollte aus meiner Sicht einen neutralen Vermittlungsversuch anbieten. Zuletzt hat sie die Justizkommissarin geschickt, doch die bezog sofort Position für die Demonstranten. Auch der deutsche und der französische Botschafter bezogen in einem Artikel in einer bulgarischen Zeitung Position für die Demonstranten und prangerten das oligarchische System an. Ein ungewöhnlicher Schritt für Botschafter. Unter diesen Umständen ist die Regierung natürlich nicht bereit, auf Außenstehende und die EU zu hören. Ein neutraler Vermittler dagegen könnte darauf hinwirken, dass es im nächsten Mai zu vorgezogenen Neuwahlen kommt.

Gernot Erler (geboren 1944) ist Vorsitzender des Deutsch-Bulgarischen Forums in Berlin. Seit 2009 ist er stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Von 2005 bis 2009 war er Staatsminister im Auswärtigen Amt.