SPD-Außenpolitiker Erler: EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei nicht erst im Herbst

SWR 2 Tagesgespräch, 25. Juni 2013

Baden-Baden: Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler, sieht die Bundesregierung weiter „im Bremserhäuschen" der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Im Südwestrundfunk (SWR) sagte Erler, der jüngste Vorschlag, die Gespräche erst nach dem nächsten EU-Fortschrittsbericht wieder aufzunehmen, sei ein schlechter „Formelkompromiss". Damit wolle sich die schwarzgelbe Koalition aus der schwierigen Lage befreien, in die sie „sich selber hinein bugsiert habe". In den Gesprächen mit der Türkei sei aber Zeit im Verzug. In den vergangenen drei Jahren sei auf diesem Gebiet nichts mehr passiert, bemängelte Erler. Die EU müsse jetzt klar machen, dass sie an ihrem strategischen Ziel eines Beitritts der Türkei festhalte. Der SPD-Politiker erinnerte daran, dass die Verhandlungen mit Kroatien zum gleichen Zeitpunkt begonnen hätten wie die mit Ankara. Kroatien werde immerhin am nächsten Montag der EU beitreten. Wenn die Gespräche mit der Türkei in dem Tempo weiter gingen wie sie bisher geführt worden seien, müsse man sich, so Erler, „auf das Jahr 2050 einstellen", bis es zu einer Entscheidung komme.

Wortlaut des Live-Gesprächs:

Geissler: Die Türkei-Politik der EU ist unser verabredetes Thema heute Morgen. Lassen Sie uns aber bitte kurz auf die aktuelle Nachricht aus Afghanistan eingehen. In Kabul haben radikale Taliban den Präsidenten-Palast angegriffen. Was hat der internationale, auch der deutsche Einsatz der letzten zehn Jahre eigentlich gebracht, wenn solche Attacken offensichtlich mehr werden statt weniger?

Erler: Na, das Interessante ist ja, wie diese Attacken verlaufen. Das ist jetzt in kurzer Zeit ein zweiter spektakulärer Angriff, wir hatten vor kurzem einen Angriff auf den Flughafen von Kabul, aber auch da ist es so gewesen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte die Angreifer, die Taliban komplett vernichtet haben, ohne einen einzigen Verlust dabei zu erleiden. Und das ist jetzt auch bei dem Präsidenten-Palast passiert. Das heißt also, im Grunde genommen, dieses Ziel, dass die afghanischen Sicherheitskräfte, also die Polizei und das Militär sich selbst verteidigen, ohne die Hilfen der ausländischen Truppen, das funktioniert, und das wird belegt gerade durch solche Attacken, die ohne Verluste für die Afghanen ausgehen.

Geissler: Im Moment ist aber die internationale Truppe noch im Land, psychologisch sozusagen. Können Sie davon aus gehen, können wir davon ausgehen, dass die einheimischen Sicherheitskräfte dann, wenn die internationale Truppe wirklich abgezogen ist, auch alle Aufgaben möglichst stemmen?

Erler: Bisher sieht das so aus. Und das Ziel ist ja, dass das erst bis zum Ende des Jahres 2014 der Fall ist. Also es ist noch ein Stückchen Zeit hier, um dieses Ziel zu erreichen, aber es gibt durchaus ermutigende Vorgänge, wo man sagen kann, diese Sicherheitskräfte, die ja nicht sehr intensiv ausgebildet sind, die werden mit diesen sinnlosen Attacken von Taliban, die ja gegen die eigenen Landsleute hier vorgetragen werden, durchaus sicherer.

Geissler: Gut, so viel zu Afghanistan. Im Moment wechseln wir die Perspektive und den Schauplatz. Die Europäische Union hat sich gestern noch nicht darauf einigen können, ob sie die Beitrittsgespräche mit der Türkei fortsetzen oder aussetzen soll. Aber es gibt Bewegung. Die Bundesregierung hat ihre bisher harte Haltung offensichtlich aufgegeben und jetzt, wie es scheint, ein Kompromissmodell im Auge: Neue Verhandlungen ja, aber nicht schon morgen, wie geplant, sondern erst in einigen Monaten. Unterstützen Sie das?

Erler: Na ja, also dazu muss man ja sagen, das ist ja ein Formelkompromiss, das heißt: Man sagt jetzt im Prinzip politisch ja zur Fortsetzung der Verhandlungen, aber verschiebt dann in Wirklichkeit das Ganze um ein halbes Jahr, auf die Zeit nach dem nächsten Bericht der EU-Kommission, dem sogenannten Fortschrittsbericht, und macht das dann davon abhängig. Also das durchschaut jeder, dass hier nur die Bundesregierung versucht, sich aus der schwierigen Lage zu befreien, in die sie sich selber hinein bugsiert hat. Nämlich mit dieser Eskalation der Auseinandersetzung mit der Türkei, mit Einberufung der Botschafter auf beiden Seiten und der klaren Rolle im Bremserhäuschen der EU-Beitrittsverhandlungen, in die man sich selber gebracht hat.

Geissler: Immerhin gibt dieser Aufschub oder gäbe er der türkischen Regierung die Chance, sich innenpolitisch wieder auf die Grundrechte zuzubewegen, die die Europäische Union von ihren Mitgliedsstaaten einfordert?

Erler: Aber ich meine, es ist so, dass wir seit drei Jahren keine Verhandlungen mehr haben, die sind seit drei Jahren unterbrochen. Wenn man das mal vergleicht mit Kroatien, Kroatien hat zum gleichen Zeitpunkt wie die Türkei die Verhandlungen angefangen und wird jetzt in wenigen Tagen der EU beitreten. Das sehe natürlich auch die Türken. Das heißt also, wir sind hier in einer Lage, wo es jetzt wirklich darum geht, dass die EU mal sagen muss, will sie eigentlich überhaupt die Verhandlungen fortsetzen, will sie eigentlich dieses strategische Ziel die Türkei an Europa heranzuführen weiter verfolgen oder nicht? Und da hat Deutschland eindeutig eine Rolle. Wir wissen ja auch, dass die Bundeskanzlerin die privilegierte Partnerschaft vorziehen würde, ohne dass es dafür irgendeine Chance gibt des Bremsers, und das ist die Situation in Europa.

Geissler: Die Frage ist ja auch, was passiert, wenn der neue Fortschrittsbericht hinter den Erwartungen der EU zurückbleiben sollte. Was kann denn realistischer Weise erwartet werden, als Ergebnisse dieses Berichts?

Erler: Der wird sicherlich nicht alles gut finden, was in der Türkei in der Zwischenzeit passiert ist. Aber auch der letzte Fortschrittsbericht hat natürlich auch zum Inhalt gehabt zu sagen, wo es Reformen gegeben hat, wo es Fortschritte gegeben hat. Der war durchaus in der Beziehung wohlwollend, und die Mehrzahl der europäischen Länder ist jetzt der Meinung, dass es jetzt weiter gehen muss, ich meine, es ist ja nur ein ganz harmloser Schritt, es soll dieses Kapitel 22 geöffnet werden. Wir wissen ja, dass von 35 Kapiteln erst 13 überhaupt eröffnet worden sind und eins geschlossen. Das ist natürlich ein mageres Ergebnis. Wenn es mit dem Tempo weiter geht, können wir uns auf das Jahr 2050 einstellen dann, bis es mal zu einer Entscheidung kommt. Und dieses Thema Regionalpolitik sollte jetzt eröffnet werden, und trotzdem stoppt das die Bundesregierung.

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