Erler: Nach Scheitern des UNO-Friedensplans droht Eskalation des Syrien-Konflikts

Interview mit SWR 2, 11. April 2012

Baden-Baden: Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler, befürchtet bei einem Scheitern des UNO-Friedensplans für Syrien eine Ausweitung des Konflikts. Im Südwestrundfunk (SWR) sagte Erler, falls der Sondergesandte Annan keinen Erfolg habe, drohe vor allem wegen der anwachsenden Flüchtlingsströme in die Nachbarländer und den jüngsten Schüssen über die türkische Grenze hinweg eine „Regionalisierung". Die Regierung in Ankara erwäge eine Pufferzone im syrischen Grenzgebiet und berufe sich dabei auf die UNO-Schutzverantwortung der sogenannten „responsibility to protect". Aus deutscher Sicht müsse für eine Schutzzone dieser Art allerdings der UNO-Sicherheitsrat ein Mandat erteilen, sagte Erler. Von einer Zustimmung Moskaus und Pekings zu diesem Mandat sei die internationale Gemeinschaft nach seiner Einschätzung „noch weit entfernt".


Wortlaut des Live-Gesprächs:

Geissler: Der UNO-Sondergesandte Kofi Annan hält seinen Friedensplan für Syrien trotz der anhaltenden Kämpfe noch nicht für gescheitert. Ist das nur eine fromme Hoffnung in Ihren Augen, oder sehen Sie tatsächlich gute Gründe für solchen Optimismus?

Erler: Das ist bestimmt ein Optimismus, der darauf baut, dass ja 48 Stunden vorgesehen waren bis zu einer Waffenruhe und erst 24 Stunden vergangen sind. Es gäbe also noch die Chance, heute voranzukommen mit der Waffenruhe und natürlich baut das auch darauf, dass die ganze Weltgemeinschaft seinen Plan unterstützt.

Geissler: Was aber, wenn der Plan tatsächlich nicht befolgt wird, welche realistischen Optionen gibt es dann?

Erler: Ich glaube, dass dann eine sehr schwierige Situation entsteht. Wir sind an der Grenze zu einer Regionalisierung des Konfliktes durch die starken Flüchtlingsströme in die Nachbarländer, besonders in die Türkei und in den Libanon, wohin schon über 50-tausend Menschen geflohen sind. Durch die Schüsse, die abgegeben worden sind über die türkische Grenze, droht eine solche Regionalisierung. Das heißt also, die Aussichten sind düster, wenn der Annan-Plan nicht jetzt oder vielleicht auch etwas später umgesetzt wird.

Geissler: Die Türkei denkt offenbar ernsthaft darüber nach, im syrischen Grenzgebiet eine Schutzzone für Flüchtlinge einzurichten. Das klingt harmlos, wäre ja wohl aber als Intervention zu werten. Ist denn das völkerrechtlich einwandfrei machbar, ohne dass der UNO-Sicherheitsrat dazu ein Mandat erteilt?

Erler: Es werden solche Überlegungen getroffen im Augenblick in Ankara. Und da argumentiert man auch, dass man vielleicht dieses neue Instrument des Völkerrechts der so genannten Schutzverantwortung der ‚responsibility to protect‘ nutzen könnte, aber nach deutscher Auffassung bräuchte man auch dafür eine Genehmigung sozusagen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Und da gibt es ja zwei Länder, die bisher alles verhindert haben, was den Sicherheitsrat angeht. Das sind eben Russland und China, die verhindert haben, dass irgendeine syrienkritische Resolution durchkommt, wegen ihrer engen Beziehung und der wichtigen Rolle Syriens für ihre Politik in der Region.

Geissler: Allerdings ist die Tonlage zumindest aus Peking mit Blick auf Damaskus etwas skeptischer geworden. Ist die Chance etwas größer geworden, dass Moskau und Peking nach den Ereignissen der letzten Tage möglicherweise einem UNO-Mandat zustimmen würden?

Erler: Ich glaube, dass wir davon noch weit entfernt sind. Allerdings ist das richtig, dass beide Länder inzwischen die Gefahr sehen sozusagen, mit der Selbstisolierung Syriens auch selber Schaden zu nehmen. Ich habe sehr genau hingeguckt, was gestern in Moskau passiert ist. Da gab es ja einen Besuch von Walid al-Muallim, dem syrischen Außenminister bei seinem Kollegen Lawrow. Und da hat es schon Ermahnungen gegeben, jetzt doch hier auch entsprechend dem Annan-Plan vorzugehen. Aber es hat auch das gegeben, was wir immer in den letzten Tagen hören, nämlich auch Aufforderungen an die Opposition, eben ebenfalls sich zurückzuziehen. Das ist ja von der Sache her richtig, aber das lenkt davon ab, dass eben den ersten Schritt auch nach dem Annan-Plan Damaskus machen sollte.

Geissler: Aber die Frage nach dem zweiten Schritt ist natürlich auch entscheidend. Eigentlich kann doch die Opposition gar kein Interesse haben, die Waffen niederzulegen, wo sie ja vom Westen bestärkt wird in der Zuversicht, dass das politische Ende Assads unausweichlich ist. Was soll sie dann eigentlich noch groß verhandeln mit dem Assad-Regime, also das tun, was der Friedensplan von Kofi Annan eigentlich einfordert?

Erler: Gut, aber ich meine, die Opposition hat auch gegengezeichnet den 6-Punkte-Plan und ist insofern auch verpflichtet. Und natürlich wäre die Opposition kaum in der Lage, weiter voranzuschreiten ohne die Hilfe von außen, vor allen Dingen auch ohne Waffenhilfe von außen. Also, insofern ist es nicht so einfach, wenn die Opposition also sich jetzt von dem 6-Punkte-Plan zurückzieht. Aber Damaskus macht es ihr eben einfach, weil der Annan-Plan vorsieht, dass der erste Schritt von Assad gemacht werden soll - und der erfolgt einfach nicht.

Geissler: Nur was gäbe es denn realistischerweise zu verhandeln? Eine Teilung der Macht zwischen Assad und der Opposition doch wohl nicht?

Erler: Zunächst einmal ist von Verhandlungen ja gar nicht die Rede, sondern es ist jetzt ja vor allen Dingen das Humanitäre im Vordergrund, das heißt, eine Waffenruhe. Und dann eben die Hilfe für die betroffenen Stadtteile und so weiter, wo viele Zivilisten noch völlig ohne jede Versorgung, ohne jede Hilfe von außen dastehen. Insofern ist dieser Friedensplan eigentlich ein Vorfriedensplan. Wie es dann weitergehen soll, das ist ja noch gar nicht entschieden. Es geht erst mal darum im Grunde genommen, die Kämpfe zu beenden.

Geissler: Aber der Aspekt ‚verhandeln‘ steht in diesem Friedensplan auch drin?

Erler: Aber nicht mit Inhalten gefüllt sozusagen. Sondern nur, dass es zu Gesprächen kommen soll.

Geissler: Sie glauben auch nicht an eine Teilung der Macht zwischen Assad und der Opposition?

Erler: Ich kann es mir schwer vorstellen, aber ich meine, alles ist natürlich besser als der jetzige Zustand, wo ganze Städte, ganze Dörfer regelrecht platt gemacht werden von ausgebildetem Militär, und wo im Grunde genommen die humanitäre Situation des Landes tagtäglich schlimmer wird und eben eine Regionalisierung des Konflikts, was außerordentlich gefährlich ist, droht.

Das Interview zum Anhören

11. April 2012