Rede Gernot Erlers in der 35. Sitzung des Deutschen Bundestages am 20. März 2003: Haushaltsdebatte Auswärtiges Amt

Haushaltsdebatte Auswärtiges Amt

Gernot Erler (SPD):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Krieg hat begonnen und wir sind uns offenbar einig darüber, dass er schon großen Schaden angerichtet hat, bevor er überhaupt richtig begonnen hat. Herr Kollege Schäuble, auch wenn Sie heute Ihre Schuldzuweisungen in ruhigerem Ton und in einer anderen Weise vorgetragen haben als Ihre Parteivorsitzende gestern in diesem Haus, können wir diesen Schuldzuweisungen nicht zustimmen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Die unaufhaltsame Vorbereitung dieses Krieges war es, die wichtige internationale und globale Familien auseinander gerissen hat: die Familie der Vereinten Nationen, die transatlantische Familie, die wachsende Familie der Europäischen Union. Diese Risse gehen tief. Da werden auch zwischen Freunden und Partnern Hassworte gewechselt und das ist die eigentliche Tragödie; denn wir sind doch nach dem 11. September nicht ohne Grund zusammengerückt - in dem Bewusstsein, dass nur dieses Zusammenrücken eine adäquate Antwort auf die unheimliche, unberechenbare neue Gefahr des globalen Terrorismus ist. Jetzt hat die Durchsetzung dieses Krieges alles das, was da zusammen war, auseinander gesprengt. Mit anderen Worten: Genau das Gegenteil dessen, was eigentlich notwendig ist, ist jetzt eingetreten.

Deswegen muss uns doch klar sein, dass wir eine prioritäre Aufgabe haben: Wir müssen jetzt eine Umkehr organisieren. Das ist das Gebot der Stunde. Dazu passen keine Schuldzuweisungen, schon gar nicht diese ungeheuerlichen von gestern, mit denen ausgerechnet diejenigen, die bis zur letzten Minute versucht haben, den Frieden zu erhalten, und für ihn gekämpft haben, für das Scheitern verantwortlich gemacht werden. Das weisen wir von dieser Stelle aus noch einmal in aller Schärfe zurück.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Und was habt ihr alles gesagt? - Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bitte Zurückhaltung! Infam war das!)

Umkehr ist in der Tat notwendig. Jetzt werden Legenden gestrickt. Diese Legenden sind gefährlich, zum Beispiel die Legende über das Scheitern oder über die Unfähigkeit der Vereinten Nationen. Präsident Bush hat in seiner Rede am 17. März wörtlich gesagt: Der UN-Sicherheitsrat ist seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen. - Er hat der Weltöffentlichkeit noch einmal weismachen wollen, dass es einen Unterschied gibt: auf der einen Seite Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit bei den Vereinigten Staaten, auf der anderen Seite Untätigkeit, Unfähigkeit zum Handeln bei den Vereinten Nationen. - Das ist eine Legende, die wir zurückweisen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Tatsache ist: Die Vereinten Nationen haben ihre Pflicht wahrgenommen. Es war die Pflicht, bis zur letzten Minute zu versuchen, eine Entwaffnung des Irak ohne Krieg zu erreichen. Wir danken Kofi Annan und den Chefinspekteuren Blix und al-Baradei und ihren Leuten für ihren mutigen und zielstrebigen Einsatz in diesem Zusammenhang.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Joschka Fischer, der Außenminister, hat mit Recht gesagt: Wer auch nur die Dokumente der letzten Tage und jetzt den 83 Seiten langen Bericht von Blix noch einmal liest, weiß: Es hat diese Chance wirklich gegeben. Ich will etwas Grundsätzliches sagen. Es ist falsch, dass Entschlossenheit zum Handeln erst anfängt, wenn man das Gewehr anlegt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Helden dieser fragilen Welt sind nicht die Kriegsherren, sondern die, die mit Geduld und auch mit politischer Durchsetzungskraft Wege aus der Gefahr aufzeigen und auch gehen. Tatsache ist, dass die UN die Chance, diesen Weg zu Ende und bis zum Erfolg zu gehen, einfach nicht bekommen haben. Sichtbar wird das zum Beispiel an den Al-Samud-Raketen. Was für ein Wahnsinn! 70 von 120 sind zerstört. Jetzt wird der Prozess abgebrochen - vielleicht mit der Folge, dass die restlichen 50 mit zerstörerischer Kraft in einem Krieg eingesetzt werden. Warum konnte diese Alternative nicht verfolgt werden?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Es handelt sich um etwas ganz anderes als um die Unfähigkeit der Vereinten Nationen. Als die amerikanische Diplomatie den Versuch unternahm, den Sicherheitsrat von der Notwendigkeit des Krieges zu überzeugen, stand es 11 : 4 dagegen. Als die amerikanische Diplomatie den Versuch aufgab, den Sicherheitsrat von der Notwendigkeit des Krieges zu überzeugen, stand es immer noch 11 : 4 dagegen. Das ist keine Krise der Vereinten Nationen; das ist eine Krise von Argumenten und Überzeugungskraft und nichts anderes. Ich muss sagen: Ich habe großen Respekt - und möchte ihn vor diesem Haus zum Ausdruck bringen - vor dem Verhalten der sechs Länder Mexiko, Chile, Pakistan, Angola, Kamerun und Guinea, die größtem Druck widerstanden haben, die ein Beispiel gegeben haben, die sich nicht verbogen haben und die etwas gegeben haben, wovon wir in der künftigen Politik noch zehren können. Respekt für diese Haltung!

Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich habe auch das Bedürfnis, dem Außenminister meinen Respekt dafür auszudrücken, wie er mit Botschafter Pleuger und seinem Team in den letzten Wochen im Rahmen der Vereinten Nationen gearbeitet hat. Er hat eine klare Linie vertreten, diese aber immer in einem Ton vorgetragen, der die wichtige Arbeit an einer Umkehr möglich macht. Die nächste Gelegenheit für die Vereinten Nationen wird kommen, meine Damen und Herren. Der amerikanische Präsident hat schon angedeutet, dass er die Vereinten Nationen braucht. Er braucht sie, um eine humanitäre Katastrophe im Irak abzuwenden. Es gibt keine andere Organisation als die Vereinten Nationen, die über ein Netzwerk zur Verteilung von Lebensmitteln und Medizin in dieser Region verfügt. 60 Prozent der irakischen Bevölkerung waren schon in den letzten Jahren von diesem Netzwerk abhängig. Aber das bedeutet, es besteht die Möglichkeit und die Wahrscheinlichkeit, dass die Weltgemeinschaft wieder in das politische Geschehen einbezogen wird. Wenn das der Fall ist, dann hat diese Weltgemeinschaft auch das Recht, die Frage nach der Umkehr zu stellen, die Frage zu stellen, ob es der richtige Weg ist, womöglich zu versuchen, eine ganze Region nach den eigenen Vorstellungen umzuorganisieren, und ob dieser Krieg in Wirklichkeit die Umsetzung, die Implementierung jener nationalen Sicherheitsstrategie ist, die am 17. September letzten Jahres vom amerikanischen Präsidenten genehmigt worden ist und die bedeutet, dass das internationale Recht auf Selbstverteidigung in ein Erstschlagsrecht gegen andere Länder umgedeutet wird und damit nicht nur für den Fall einer unmittelbaren Bedrohung, sondern auch im Fall einer potenziellen Bedrohung gilt.

Es ist unser Recht und unsere Pflicht, eine Umkehr von der Entwicklung zu einer Weltordnung, in der wir nicht leben wollen, zu versuchen, wenn die internationale Gemeinschaft hier wieder gefordert wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir werden Hilfe leisten, um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden, auch indem wir die Entscheidung treffen, die Mittel für humanitäre Hilfe im Bundeshaushalt von 40 Millionen Euro auf 80 Millionen Euro zu erhöhen.

(Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Ach?)

Wir rechnen da mit Ihrer Mithilfe. Wir werden das entweder im Einzelplan 60 oder durch eine Entscheidung im April dieses Jahres durchsetzen, auf jeden Fall durch eine Erwirtschaftung aus dem Gesamthaushalt. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie selber mit einem Antrag, der andere Größenordnungen enthält, hier eine Initiative ergriffen haben. Wir sind zu dieser Hilfe und zu neuer Kooperation bereit. Aber im gleichen Atemzug sage ich auch: Es gilt, dass wir uns jeder Arbeitsteilung verweigern werden, die dieser von mir eben beschriebenen Doktrin einer Ordnung, in der es um Erstschlag geht, in irgendeiner Weise zur Durchsetzung verhilft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Das darf nicht die Folge unserer Hilfe und Kooperationsbereitschaft sein. Deswegen sage ich heute in dieser Situation: Wir setzen das Ziel der Umkehr, die wir über den Dialog, auch den transatlantischen Dialog, organisieren müssen, mit aller Entschlossenheit auf die Tagesordnung. Wir tun das gegen die Gefühle von Beklemmung und von Hilflosigkeit, die wir alle heute empfinden und die sich in den Stunden ausbreiten, in denen statt der Menschen die Waffen sprechen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)