Rede Gernot Erlers in der 37. Sitzung des Deutschen Bundestages am 3. April 2003: Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler zur internationalen Lage

Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler zur internationalen Lage

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder und Nachrichten, die wir von diesem Krieg erhalten, werden immer unerträglicher. Das Elend der Opfer und der Anblick ihrer Wehr- und Schutzlosigkeit brennen sich in unsere Sinne ein und begleiten uns in diesen Tagen auf Schritt und Tritt.
Die Medien - so empfinde ich es - halten eine kritische Distanz zu einer offiziellen Kriegsberichterstattung, die auch Manipulationen einschließt. Immer häufiger beobachten wir aber, dass zwar berechtigte und gute Fragen zu diesem Krieg gestellt, darauf jedoch schlechte oder nichtssagende Antworten gegeben werden. Es besteht die Gefahr, dass uns die Massivität und die Wucht des Geschehens wegträgt und stumpf macht. Dem müssen wir widerstehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vor allem dürfen wir nicht vergessen, an wessen Stelle dieser Krieg gerückt ist. Noch bis vor 14 Tagen gab es eine Alternative, Frau Merkel. Der Begriff "friedliche Lösung" ist dafür eine viel zu schwache Formulierung. Vor dem Krieg, zur Zeit der Inspektionen, war das Regime von Saddam Hussein weltweit politisch komplett isoliert. Seine Souveränität war durch Kontrollflüge in der Luft und ein Kontrollsystem am Boden mit Durchgriffsrechten ohne Beispiel hundertfach eingeschränkt.
Vor diesem Hintergrund erschien der Diktator, der die Forderungen der internationalen Gemeinschaft erfüllen musste, immer kläglicher. Es schien eine Frage der Zeit zu sein, bis die Entwaffnung durch die Inspektoren und das dann vorgesehene dauerhafte Kontrollsystem einen faktischen Regimewechsel herbeigeführt hätten. Es wäre ein sang- und klangloses Auslaufen dieses Regimes gewesen, das seine Schreckenswirkung auf andere immer durch die Bedrohung mit Waffen ausgeübt hat.

Was aber ist jetzt? Was außer unschuldigen Opfern produziert dieser Krieg? Die politische Isolation des Regimes ist nicht mehr vollständig: weder nach innen noch nach außen. Erste Länder bekunden ihre Unterstützung für dieses Regime. Amerikanische Beobachter stellen konsterniert fest, dass Iraker aus dem In- und Ausland angesichts des Bombenhagels zu den Waffen eilen, um ihr Land zu verteidigen. Zwar zweifelt kaum jemand am baldigen Ende Saddams, aber jetzt kommt dieses Ende nicht sang- und klanglos, sondern in einem Geschützdonner, der Saddam Hussein einen alten Traum erfüllen könnte, nämlich in seinem Ende noch den Zugang zu jenem Kosmos arabischen Heldentums zu finden, von dem er immer geträumt hat. Von den Seitenbühnen dieser Szene hören wir immer häufiger das bedrohliche Wort Dschihad. Plötzlich bitten die Sprecher der Krieg führenden Staaten um die Geduld, die sie vorher den Vereinten Nationen und der Mehrheit der Staaten verwehrt haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Frau Merkel, auf diese Zwischenbilanz des Krieges hätten Sie eingehen müssen. Das hätten wir von Ihnen erwartet. Aber Sie haben es nicht getan. Nach 14 Tagen Krieg kommen weltweit immer mehr Menschen zu der Erkenntnis: Dieser Krieg ist ein blutiger Irrweg, der einen kaum übersehbaren politischen Flurschaden anrichtet. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn sich die überlegenen Waffen durchgesetzt haben und dann dieser Krieg sehr bald, wie wir hoffen, zu Ende sein wird. Gerade deswegen war es wichtig, dass diese Bundesregierung zusammen mit vielen anderen Ländern bis zur letzten Minute alles getan und versucht hat, um diesen Irrweg zu verhindern und eine Alternative, die Entwaffnung ohne Krieg, durchzusetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Rede wieder bewiesen: Sie versuchen, den Menschen bis heute einzureden, dass es diese Alternative nicht gab. Das ist unser eigentlicher Dissens. Sie tun das deswegen, weil Sie die Politik der amerikanischen Regierung von Anfang bis Ende ohne Wenn und Aber unterstützt haben, die diesen Krieg von vornherein vorbereitet und sich am Ende gegen die Mehrheit der Staatengesellschaft durchgesetzt hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Aber Sie werden mit Ihrer Behauptung von der Unvermeidbarkeit des Irakkrieges nicht durchkommen, Frau Merkel. Sie schaffen es nicht einmal, Ihre eigene Fraktion zu überzeugen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Angeblich hat sich diese vorgestern, bis auf den wackeren Kollegen Gauweiler,

(Heiterkeit bei der SPD)

hinter Sie gestellt, aber da gibt es Erklärungsbedarf.

(Peter Hintze [CDU/CSU]: Da muss er selber schlucken, der Herr Erler!)

Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Von einem Mitglied Ihrer Fraktion konnte man in der regionalen Presse vor wenigen Tagen folgende Sätze lesen:"Ich verurteile das Vorgehen der USA. Im Gegensatz zur Mehrheit meiner Partei denke ich, dass die friedlichen Mittel nicht ausgeschöpft wurden." Noch am letzten Samstag war zu lesen: "Ich liege klar nicht auf der Linie der Fraktionschefin. Das Vorgehen der USA, ein Ultimatum zu stellen und in den Krieg zu ziehen, finde ich falsch." Am Dienstag war alles ganz anders, frei nach dem Motto: Hier stehe ich, ich kann auch anders, und das bei Fragen von Krieg und Frieden. Das ist kein Einzelfall, viele unserer Kollegen haben das Gleiche in ihren Wahlkreisen erlebt. Das heißt aber: In Wirklichkeit gibt es viel mehr Gauweilers, als wir denken. Bloß sprechen einige in Berlin anders als zu Hause.

(Zuruf von der SPD: Mit gespaltener Zunge!)

Das heißt aber auch: Ihre argumentative Bindewirkung, Frau Merkel, endet bereits an den Türen Ihres Fraktionssaales.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

In Wirklichkeit mussten Sie schon jetzt zum letzten Mittel einer informellen Vertrauensfrage greifen,

(Lachen bei der CDU/CSU)

um die vielen zum Verstummen zum bringen, die ganz anderer Meinung in der Kriegsfrage sind als Sie.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Mit Ihrer dogmatischen Position richten Sie einen Schaden an, der weit über Ihre Partei und Ihre Fraktion hinausgeht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Die Menschen merken nämlich ganz genau, wie gefährlich die jetzige Diskussion ist. Frau Merkel, ich rufe Sie auf, endlich einmal mit dieser Hetze gegen die Bundesregierung aufzuhören und zu behaupten,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

dass sie eine Mitverantwortung für den Krieg habe. Sie merken überhaupt nicht den Widerspruch, dass Sie einerseits den Bundeskanzler auffordern, er solle zum Ausgleich in Europa beitragen, Sie aber andererseits in der Kleinräumigkeit der Bundesrepublik jeden Tag aufs Neue das Tischtuch zerschneiden. Die Leute erwarten doch etwas völlig anderes von uns. Sie erwarten, dass wir in diesem Augenblick gemeinsam handeln und uns auf die Prioritäten konzentrieren.
Diese Prioritäten sind erkennbar. Die erste Priorität heißt: Es muss zunächst einmal etwas zur Abwendung der humanitären Katastrophe unternommen werden.

(Beifall bei der SPD)

Es wurde sogar von Amerika anerkannt, was die Bundesregierung in dieser Beziehung gemacht hat. Deutschland hat als Vorsitzender des Sanktionsausschusses Irak ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die Sicherheitsratsresolution 1472 vom 28. März zustande gekommen ist. Wir gratulieren und danken unserer Delegation bei den Vereinten Nationen unter Botschafter Pleuger für ihren Anteil daran.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Es gibt noch eine zweite Priorität, diese heißt: Die Autorität der Vereinten Nationen bei jeder Regelung einer Friedensordnung bzw. einer Nachkriegsordnung nicht nur im Irak, sondern in der ganzen Region, muss wieder hergestellt werden. Wir freuen uns - das ist ein konkreter Erfolg von Politik -, dass Großbritannien und insbesondere Tony Blair uns in dieser Position immer deutlicher unterstützen. Das ist der Weg zurück zu einer gemeinsamen europäischen Position. Diese ist konkret erreicht worden und deshalb bedarf es nicht irgendwelcher Anmahnungen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Der Krieg im Irak bringt viele zum Zweifeln und zum Verzweifeln. Wenn wir als zum Handeln Gewählte auch noch Argumente liefern, die Defätismus, die Kleinmütigkeit legitimieren, dann werden wir unserem Mandat nicht gerecht. Es gab Alternativen und es gibt sie immer noch zu dem, was uns jetzt alle quält. Wir müssen diese Alternativen benennen und global durchsetzungsfähig machen. Das und nichts anderes ist unsere Aufgabe.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN