Rede Gernot Erlers in der 70. Sitzung des Deutschen Bundestages am 24. Oktober 2003: Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte in Afghanistan

Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte in Afghanistan

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Beitrag des Kollegen Hoyer hat noch einmal gezeigt: Es ist wichtig, dass geklärt wird, worüber wir heute beschließen. Darüber hat es eine öffentliche Diskussion gegeben; sie hat gezeigt, dass es Klärungsbedarf gibt. Der richtige Ort für diese Klärung ist hier, das Plenum des Deutschen Bundestages.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will anfangen, indem ich klarstelle, was diese Kunduz-Mission nicht ist: Sie ist kein Spaziergang der Bundeswehr in ein sicheres Gebiet, gewissermaßen überflüssig und lediglich der Tätigkeitsnachweis für einen deutschen Beitrag im Antiterrorkampf und damit ein Ersatz für andere Aktivitäten. Die Wahrheit ist: Kunduz ist ein geographisches Kürzel für vier Nordprovinzen in Afghanistan mit 85 200 Quadratkilometern, auf denen 3,2 Millionen Menschen leben. Es ist schon eine schwierige Aufgabe, dort das hier schon mehrfach zitierte sichere Umfeld zu schaffen. Das kann man nur durch Präsenz der internationalen Gemeinschaft vor Ort. Wir können dabei auf das besondere Vertrauensverhältnis zu Deutschland zurückgreifen, das dort verbreitet ist. Damit kommen wir dem dringenden Wunsch der afghanischen Übergangsregierung nach, das exakt dort zu tun. Es kann natürlich nicht darum gehen, dort Sicherheit zu erzwingen. Mit 230 bis 450 Soldaten wäre das auch absolut lächerlich.


Warum ist es überhaupt notwendig und sinnvoll, in dieser Region ein sicheres Umfeld zu schaffen? Gerade in Kunduz, in diesen vier Nordprovinzen, stehen in den nächsten Wochen und Monaten sehr wichtige, exemplarische Prozesse bevor. Der eine davon verbindet sich mit drei Stichworten, nämlich Demobilisierung, Demilitarisierung und Reintegration, was dann die etwas eigenartige Abkürzung „DDR" ergibt. Diese Mission wird von der neu gebildeten afghanischen Nationalarmee durchgeführt, die dabei die besondere Unterstützung Japans erhält. Kunduz ist hierfür als Ort eines exemplarischen Pilotprojektes ausgesucht worden. Es versteht wohl jeder, dass man für diesen komplizierten Prozess ein sicheres Umfeld braucht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Für den 10. Dezember erwarten wir die Bildung der verfassunggebenden Loya Jirga durch den afghanischen Übergangspräsidenten. Dann wird auch in dieser Region eine sehr intensive, wahrscheinlich auch spannungsreiche Diskussion über die neue Verfassung geführt. Dabei wird über die künftige Struktur Afghanistans sehr viel entschieden. Dafür braucht man ein sicheres Umfeld durch eine sichtbare Repräsentanz der internationalen Gemeinschaft.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Plan von Petersberg sieht vor, dass im Juni nächsten Jahres Wahlen stattfinden. In den nächsten Monaten findet die Registrierung der Wähler statt. Dadurch werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass alle Parteien - auch solche, die nicht ethnisch begründet oder von den Warlords in ihren Regionen kreiert worden sind - eine Chance haben. Dazu braucht man ein sicheres Umfeld und die Repräsentanz der internationalen Gemeinschaft.


Herr Hoyer, ich glaube, das ist insgesamt schon ein überzeugendes Konzept. Ich bedauere sehr, dass Sie und Ihre Fraktion die Bedeutung offensichtlich nicht verstanden haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch wenn es entsprechende Befürchtungen gegeben hat, ist die Mission in Kunduz außerdem kein Begleitschutz für zivile Helfer vor Ort. Denn dies würde die Gefahr bergen, dass die beiden Missionen vermischt werden und eine optische Identität von Militärischem und Zivilem entsteht. Die Bundeswehr wird vor Ort keine Rolle spielen, für die sie nicht ausgebildet und auf die sie nicht vorbereitet ist. Herr Kollege Hoyer, sie wird in der Tat nicht Drogenpolizei spielen. Warum haben wir denn in Kabul nicht nur eine allgemeine Polizei - das war die deutsche Aufgabe - und eine Grenzpolizei, sondern auch eine Drogenpolizei eingerichtet? Herr Hoyer, diese ist dort einzusetzen. Ihre Bedenken sind doch kein Argument gegen die Kunduzmission.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Hoyer, der militärische Einsatz wird überhaupt erst verständlich, weil er mit einem zivilen Einsatz und einer Verstärkung von internationalen Programmen einhergeht. Ich hätte mir gewünscht, dass Ihre Fraktion zur Kenntnis nimmt: Die Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass diese Programme zum Beispiel Einkommenshilfen für jene Bauern einschließen, die sich vom Opiumanbau abwenden. Zu diesen Maßnahmen gehört eine vernünftige Arbeitsplatzpolitik für die zurückgekehrten Flüchtlinge und diejenigen, die aus der Demobilisierung kommen. Das ist doch die einzige Chance im Kampf gegen die Opiumherrschaft der dortigen Drogenbarone.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt noch viele andere Aufgaben im Infrastrukturbereich: bei der Aufbereitung von Trinkwasser, im Bereich der Elektrizität, beim Straßenbau. Der Aufbau der Polizei in der Region - das ist die Verbindung von Militärischem und Zivilem in Kunduz. Das, was in Kabul geglückt ist, soll in der Provinz ebenfalls gelingen.
Das Konzept sieht vor, dass die afghanischen Politiker vor Ort mehr Selbstverantwortung übernehmen. Das ist auch im Kontext mit einer ganz anderen Diskussion sehr wichtig. Man kann das im Zusammenhang mit der Kunduzmission nicht einfach beiseite schieben, wie es hier passiert ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Offenbar besteht auch Unklarheit darüber, was das Konzept von ISAF-Inseln beinhaltet. Ich kann dabei nur aufgreifen, was der Kollege Schäuble hier gesagt hat. Es stimmt, das Konzept der ISAF-Inseln ist kein Retortenprodukt von irgendwelchen Strategen am Schreibtisch; die ISAF-Inseln sind die Folge einer defizitären politischen Entwicklung vor Ort.


Wir wissen, dass die Übergangsregierung Karzai heute Autorität im Wesentlichen in Kabul und der Umgebung hat. Die Hoffnung darauf, dass sie sich von alleine ausweitet, war leider irrig. Die Idee, so viele Soldaten zur Verfügung zu stellen, dass man die Autorität zwangsweise ausweiten kann, ist unrealistisch, weil kein Land bereit ist, entsprechende Kräfte zur Verfügung zu stellen.


Insofern ist das Konzept, ISAF-Inseln zu schaffen, auch Ausdruck eines Lösungsansatzes. Herr Kollege Hoyer, die Idee dahinter ist doch, dass man ein Vorbild bzw. einen Anstoß gibt, von dem man erwarten kann, dass auch die afghanische Bevölkerung ihn versteht. Gerade die Kooperation von Zentralregierung und internationaler Gemeinschaft, die der Bevölkerung sichtbare Vorteile bringt, soll als Pilotprojekt wirken, das sich von ganz allein fortsetzt. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit soll größer werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen ist die Kombination von Bundeswehreinsatz und internationaler Hilfe so wichtig. Es ist wichtig, dass es nicht nur acht Inseln bleiben, sondern dass sich darüber hinaus auch noch andere Länder engagieren. Das wollen wir doch.


Deshalb ist auch entscheidend, dass das Ganze im neu geschaffenen Rahmen von ISAF und nicht im Kontext von Enduring Freedom und der Terrorbekämpfung stattfindet; denn diese Mission hatte für die Bevölkerung vor Ort sehr viele problematische Begleiterscheinungen. Ich finde, man muss sehr anerkennen, dass die Bundesregierung es geschafft hat, dass es zu der UN-Resolution 1510 gekommen ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte behaupten: In der Geschichte der Afghanistan-Politik wird es als das Wichtigste angesehen werden, dass das ISAF-Konzept jetzt im ganzen Land angewandt werden kann, auch wenn es leider zurzeit nur inselförmig zur Anwendung kommt. Dieser Prozess, den wir mit unserem heutigen Beschluss unterstützen können, steht wirklich für eine neue strategische Etappe. Das schließt sich nahtlos an unsere bisherigen Engagements an, die immer Pioniercharakter hatten. Wir waren die Ersten, die umfangreiche humanitäre Hilfe in Afghanistan geleistet haben. Die Bundesregierung hat mit unserer Unterstützung den politischen Prozess der Petersberg-Konferenzen auf den Weg gebracht. Wir haben uns mehr als andere Nationen bei der Absicherung dieses politischen Prozesses beteiligt, indem wir eine militärisch sekundäre, aber politisch sehr wichtige Rolle eingenommen haben. Die nächste wichtige Etappe der ISAF-Mission ist es jetzt, Inseln zu schaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was hier stattfindet, kann man getrost als Regimechange bezeichnen. Wir befinden uns mitten in einem Nation-Building-Prozess.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jeder von uns weiß, dass dieser Prozess mühsam, langwierig und auch unerhört kostspielig ist. Wir beachten dabei aber - ich zitiere das hier im Plenum immer wieder gerne - die große Mahnung, die von diesem Platz aus Kofi Annan uns gegeben hat, nämlich eine nachhaltige Friedensstrategie zu verfolgen. Kunduz steht für die Fortsetzung dieser nachhaltigen Friedensstrategie.


Abschließend möchte ich doch noch einmal ein Wort zu Ihren Ausführungen, Herr Hoyer, sagen: Ich habe gehört, wie respektvoll sich der Bundesminister der Verteidigung mit Ihrem Nein auseinander gesetzt hat. Eine Kritik kann ich Ihnen nach Ihrem Beitrag aber nicht ersparen: Sie haben wunderbar die Schwierigkeiten beschrieben. Der Analyse kann man nicht widersprechen. Ich fand es aber empörend, dass Sie hier das Bild gezeichnet haben, dass deutsche Soldaten einfach nur zuschauen würden, wie dort weiterhin Drogenanbau betrieben wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Man kann doch in der Politik nicht nur Fragen stellen, sondern man muss auch Antworten geben. Sie haben keinerlei Alternative aufgezeigt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zurufe von der FDP)


Nachdem nun schon Ihre eigenen Leute Ihrer Partei vorhalten, dass sie sich in der deutschen Politik abmeldete, sage ich Ihnen, dass die Gefahr besteht, dass Sie sich auch noch in der internationalen Politik abmelden. Das ist natürlich Ihr Problem.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Für meine Fraktion kann ich nur sagen: Wir unterstützen die Fortsetzung der Friedenspolitik durch die Mission in Kunduz. Wir werden die deutschen Soldaten, aber auch die Arbeit des Entwicklungshilfeministeriums und der internationalen Hilfsorganisationen in dieser Region solidarisch begleiten und immer auch kritisch auf ihre Wirksamkeit überprüfen. In diesem Sinne werden wir zustimmen.


Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)