Rede Gernot Erlers in der 75. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13.November 2003: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Die aktuelle Russlandpolitik der Bundesregierung

Die aktuelle Russlandpolitik der Bundesregierung

Gernot Erler (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin mit vielem einverstanden, was aus der analytischen Beobachtung heraus vorgetragen worden ist. Aber ich möchte an die rechte Seite des Hauses gewandt, auf der viele Kollegen aus der deutsch-russischen Parlamentariergruppe sitzen, die noch in diesen Tagen mit mir und auch mit russischen Journalisten sehr offene Worte gewechselt haben, die Frage richten: Ist der Umgang mit diesem Thema, indem Sie die Bundesregierung, die Fragen stellt und sich zu dem Thema äußert, auffordern, etwas lauter zu reden, eigentlich angemessen? Ich glaube nicht, dass das dem Problem, das wir in diesem Zusammenhang haben, angemessen ist.

(Beifall bei der Abgeordneten der SPD)

Wir sind sehr besorgt über das, was hier vorgeht, weil es den langen Weg der russischen Politik, den wir kollegial und partnerschaftlich begleitet haben und an dessen guten Resultaten wir gemeinsam interessiert sind, möglicherweise infrage stellt. In Russland ist ein wichtiger Unternehmer - der reichste Mann Russlands, aber auch ein Mann des öffentlichen Lebens mit einer sehr wirksamen, großen Stiftung, der Stiftung "Offenes Russland" - verhaftet worden, wobei kein einziger Russe glaubt, dass das kein politischer Vorgang war. Daher brauchen auch wir das nicht zu glauben, Herr Leibrecht; das ist völlig richtig. Sie haben aber auch Boris Grislow, den Vorsitzenden der putinschen Reformpartei, zitiert: Die russischen Bodenschätze gehören dem russischen Volk.

In diesem Zusammenhang stellt sich sofort die Frage, ob es hierbei um ein Strafverfahren geht oder ob sich damit eine Revision der Politik der 90er-Jahre ankündigt, in denen, wie wir alle wissen, eine mehr oder weniger gesetzlose und oft wilde Aneignung von Volksvermögen stattgefunden hat. Soll das revidiert werden?

Aber unsere russischen Kollegen stellen ferner eine andere Frage, die ich noch gravierender finde. Sie fragen danach, ob vielleicht nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine politisch-gesellschaftliche Revision bevorsteht. Der uns allen bekannte liberale Politiker Grigorij Jawlinskij hat festgestellt: Von der gesteuerten Demokratie Putins bleibt im Augenblick nur noch die Steuerung übrig.

Noch deutlicher hat sich Gleb Pawlowskij - keineswegs jemand, der verdächtigt ist, ein Kritiker des Kreml zu sein - geäußert: Es ist klar, dass es sich um die Vorbereitung eines politischen Schauprozesses handelt.

(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ja! - Harald Leibrecht [FDP]: Ja!)

Boris Nemcow - auch er ist als ehemaliger Gouverneur von Nischnij Novgorod in Deutschland gut bekannt - hat zu dem Zusammenhang und den Veränderungen an der Kremlspitze am 28. Oktober in der "Nezavisimaja Gazeta" Folgendes festgestellt:
Ein Sieg der Silaviki, - das ist die Machtgruppe aus den Diensten - die auf die wirtschaftlichen Interessen des Landes pfeifen, ist eine feste Wendung in Richtung Diktatur.

Schauprozess, Diktatur, möglicherweise eine völlige Veränderung innerhalb der russischen Gesellschaft - das sind keine von uns gewählten Begriffe, sondern sie wurden von unseren Kollegen in Russland verwendet. Ich glaube, das macht deutlich, um welche Dimension es hierbei geht. Man muss sich sehr genau überlegen, wie man damit umgeht. Es geht nicht darum, sich gegenseitig vorzuwerfen, dass der eine zu leise und der andere zu laut redet. Ich meine, wir haben sehr ernste Fragen zu stellen. Dabei sollten wir immer im Blick behalten, was unsere Interessen sind. Unsere Interessen sind, dass all die Befürchtungen, die unsere Kollegen aus Russland - vielleicht auch angespornt durch den Wahlkampf, der begonnen hat - vortragen, nicht eintreten. Wir sind an einem Erfolg des russischen Transformationsprozesses und auch der wichtigen Reformen interessiert, die sich mit dem Namen Putin und seinen letzten vier Regierungsjahren verbinden. Wir müssen bei allem, was wir hier tun, abwägen, ob es dazu beiträgt oder nicht.

Ich hoffe sehr, dass unsere Debatte - wenn sie in diesem Ton geführt wird; es ist das gute Recht nicht nur der Regierung, sondern auch des Parlaments, das zum Ausdruck zu bringen; deswegen finde ich es gut, dass Sie von der CDU/CSU diese Aktuelle Stunde beantragt haben; das findet meine Unterstützung - der russischen Seite unsere Erwartung deutlich macht, bald befriedigende und auch zutreffende Antworten auf unsere ernsten Fragen - wir erfinden das Thema nicht; es ist vielmehr ein Thema der russischen Gesellschaft - zu bekommen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)