Rede Gernot Erlers in der 78. Sitzung des Deutschen Bundestages am 26. November 2003: Haushalt Auswärtiges Amt

Haushalt Auswärtiges Amt

Gernot Erler (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns in der Welt umschauen, dann sehen wir im Irak die Bilder des Krieges mit Bomben und Raketen und täglichen Opfern, verbunden mit menschlichen Tragödien, dann sehen wir dasselbe im Nahen Osten, für den wir einen guten, alternativlosen Friedensplan haben, an den sich aber keiner hält, was Opfer und menschliche Tragödien zur Folge hat. Das gilt für Afghanistan, wo die Kämpfe wieder stärker werden und wir täglich Opfer und menschliche Tragödien haben. Das gilt für Tschetschenien und es gilt für viele andere Plätze auf der Welt.

In diesem Kontext ist es regelrecht ein Lichtblick, dass bei dem Wechsel der Macht in der ersten Generation in Georgien zum Glück - das will ich ausdrücklich begrüßen - bisher ein Blutvergießen vermieden werden konnte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Dazu haben einige beigetragen, der Präsident Schewardnadse, dem wir viel zu verdanken haben und der sich im richtigen Moment zurückgezogen hat, auch die Oppositionsführer, die trotz hohen Engagements ein Gefühl der Verantwortung behalten haben, und auch der russische Außenminister, der im richtigen Moment vermittelt hat, wofür wir ihm hier im Deutschen Bundestag Respekt zollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Herbert Frankenhausen [CDU/CSU])

Trotzdem bleibt auch eine internationale Verantwortung für die ungelösten regionalen Konflikte in Georgien. Aber all das wird von der Serie von Akten des internationalen Terrorismus überschattet, die einen grauenvollen Höhepunkt in Istanbul gefunden hat. Sie ist ein Beweis für die Menschenverachtung, aber auch für die Handlungsfähigkeit des global agierenden Terrorismus. Das zeigt übrigens die Unkalkulierbarkeit des Risikos. In Wirklichkeit ist Istanbul ein potenzielles Überall.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja!)

In dieser Situation zeigt die Bundesregierung durch die Fortsetzung unseres Engagements auf dem Balkan, durch den verstärkten Einsatz in Afghanistan, durch die Initiative, an der sie sich wegen des gefährlichen Atomprogramms im Iran beteiligt hat, und auch durch die regelrecht demonstrative Unterstützung unseres Partners Türkei nach den Anschlägen in Istanbul Einsatz und Verantwortung. Ich möchte dem Außenminister ausdrücklich dafür danken, dass er richtig gehandelt hat, indem er sofort in die Türkei gereist ist, um diese Unterstützung zu beweisen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Damit kommen wir zu der Frage, ob das gleiche Verantwortungsbewusstsein auch bei der Opposition zu beobachten ist.

(Peter Hintze [CDU/CSU]: Das ist es! - Kurt Bodewig [SPD]: Die Antwort lautet: Nein!)

Daran sind - auch in der Öffentlichkeit - Zweifel angebracht. Was die Kolleginnen und Kollegen von der FDP angeht, kann nach wie vor niemand verstehen, warum sie in der eben von mir angesprochenen Situation die Fortsetzung des Kampfes gegen den Terrorismus in Afghanistan und unsere Beteiligung daran wie auch die Erweiterung des Einsatzes - damit die Übergangsregierung Karzai endlich über Kabul hinausgehen kann - abgelehnt haben. Sie führen damit Ihre internationale Politik in die Isolation. Man kann nur froh darüber sein, dass Ihnen auf diesem Weg niemand folgt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber auch und gerade nach der Rede des Kollegen Schäuble, in der er die Fakten zum großen Teil auf den Kopf gestellt hat, kann ich das notwendige Engagement und Verantwortungsbewusstsein bei der Opposition nicht feststellen. Die Türkeipolitik der CDU/CSU ist und bleibt von A bis Z unverantwortlich,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und zwar aus drei Hauptgründen.

Erstens. Sie führen die deutsche Öffentlichkeit bewusst in die Irre, Herr Schäuble, wenn Sie so tun, als würde im Jahr 2004 über den Beitritt der Türkei entschieden. Sie wissen sehr genau, dass es nur um eine Entscheidung geht, die im Dezember vergangenen Jahres hinsichtlich der Frage anstand, ob die Türkei schon reif für Beitrittsverhandlungen ist. Zu dem Status als Beitrittskandidat hat es in Europa bereits eine Reihe von Entscheidungen gegeben, an denen auch Sie mitgewirkt haben. Sie waren immer dafür. Das haben Sie auch zugegeben; insofern steht das nicht infrage.

Die Wahrheit ist, dass die Verhandlungen mit der Türkei auch nicht schneller verlaufen werden als mit den anderen Beitrittsstaaten. Das heißt, in Wirklichkeit wird über die Bewertung des Verhandlungsprozesses erst im Jahr 2015 entschieden. Was Sie immer wieder vortragen, ist eine bewusste Irreführung der Öffentlichkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Es ist schon ein starkes Stück, Herr Schäuble, wenn Sie von einer Instrumentalisierung dieses Politikbereichs sprechen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Der Fall Bosbach hat deutlich gezeigt - -

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Der Fall Bosbach? Der Fall Erler!)

- Doch, das ist ein Fall Bosbach. Er ist ein Beweis dafür, dass Sie sich in dieser Frage für den denkbar rücksichtslosesten Populismus entschieden haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Peter Hintze [CDU/CSU]: Frechheit!)

Was den Versuch angeht, terroristische Akte und damit die Angst der Menschen politisch zu instrumentalisieren, haben Sie ein Erklärungsproblem, nicht wir.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ihre halbherzigen Bemühungen um Schadensbegrenzung, deren Zeuge wir erneut geworden sind, reichen dabei nicht aus. Was für ein Unterschied: Der Außenminister fährt in die Türkei, um sichtbar und fühlbar Solidarität zu zeigen, während Sie Ihre Instrumente für den Europawahlkampf schmieden. Das ist schäbig. Dazu stehe ich, solange Sie das nicht eindeutig zurücknehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ihre Rede ist schäbig!)

Schließlich fehlt Ihnen jede Einsicht in die Bedeutung des Reformprozesses in der Türkei für die gesamte Weltpolitik, den wir sehr sorgfältig und aufmerksam beobachten. Es ist nämlich in der Tat von weltpolitischem Interesse, ob dieser Reformprozess weitergeht. Wir - damit meine ich nicht etwa nur uns Deutsche, sondern die gesamte Weltgemeinschaft - sind daran interessiert, dass es eine große islamische Gesellschaft gibt, die den Weg der Demokratie und der Beachtung der Menschenrechte und Minderheitenrechte erfolgreich beschreitet. Dies ist im Interesse von uns allen, weil es die bessere Antwort auf die Herausforderung des "Kampfes der Zivilisationen", den Osama Bin Laden und seine Anhänger uns aufzudrücken versuchen, ist als alle anderen denkbaren Antworten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Eine solche islamische Gesellschaft ist die beste Antwort auf die terroristische Herausforderung in der internationalen Politik.

Sie werden mit Ihrem kollektiven Verdummungsprozess, bei dem so getan wird, als gehe es um etwas anderes, keinen Erfolg haben. Wir werden Sie bei diesem Thema stellen. Es geht nicht um einen EU-Beitritt der Türkei heute, morgen oder im Dezember 2004, sondern darum, ob Verhandlungen, die viele Jahre dauern werden, aufgenommen werden oder nicht. Letztlich geht es jedoch darum, was Verantwortung in der Nach-September-Welt bedeutet. Dazu sind Sie Ihre Antworten schuldig geblieben. Wir werden dafür sorgen, dass die Debatte wirklich um den Punkt geführt wird, um den es geht: um die Frage der Verantwortung in der Nach-September-Welt, nicht aber um die Frage irgendeines Beitrittsdatums. Sie werden es nicht erreichen, dass die Leute Ihnen bei Ihrem Versuch hinterherlaufen, hier ein völlig anderes Thema, das nicht ansteht, in die Welt zu setzen. Ich hoffe, dass wir auf diese Weise dafür sorgen können, dass Sie es als zu riskant ansehen, die Frage des Türkeibeitritts zu einer billigen Münze im bevorstehenden Europawahlkampf zu machen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben die doch schon im Landtagswahlkampf gemacht!)