Rede Gernot Erlers in der 92. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13. Februar 2004: Debatte zur aktuellen Europapolitik

Debatte zur aktuellen Europapolitik

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben in diesem Jahr einen Höhepunkt des europäischen Wiedervereinigungsprozesses, eines Prozesses von historischer Dimension. Wir werden aber nicht den Abschluss dieses Prozesses erleben. Verfassungsfragen und Finanzfragen sind außerordentlich wichtig und es ist bitter, dass die Probleme im Moment nicht gelöst sind. Diese Probleme dürfen aber dem historischen Prozess nicht in die Speichen greifen.

Ich möchte für meine Fraktion erklären, dass ich doch sehr besorgt bin, dass einige Äußerungen gerade aus letzter Zeit aus den Reihen der CDU/CSU exakt die Funktion des In-die-Speichen-Greifens haben und die Probleme damit vergrößern. Wir sind uns dessen bewusst, dass die Erweiterung der Union von 15 auf 25 ein schwieriger Prozess wird, aber wir dürfen dabei nie vergessen, welche enormen Schwierigkeiten in den Staaten überwunden worden sind, die jetzt das Recht auf Integration in die Europäische Union erworben haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese zwölf Jahre sind geprägt von einer enormen, respektablen Leistung. Die müssen wir in Beziehung zu den Problemen setzen, die wir vor uns haben. Das Mindeste, womit wir auf diese Leistung reagieren, ist, dass dieser Integrationsprozess verlässlich bleibt und dass die Zusagen und Zeitpläne eingehalten werden.

In diesem Zusammenhang muss ich feststellen, dass eine Infragestellung dieser Zeitpläne oder gar eine dumpf-populistische Ausgrenzungspolitik die falschen Antworten auf die Verfassungskrise sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da muss ich eine Frage an Sie, Herr Wissmann, stellen. Sie sind immerhin Vorsitzender des europapolitischen Ausschusses. Sie haben Mitte Dezember plötzlich die von der EU beschlossenen Zeitpläne für Bulgarien und Rumänien infrage gestellt. Wieso tun Sie das? Herr Stoiber hat vor drei Tagen plötzlich von der Notwendigkeit einer Erweiterungspause nach 2007 gesprochen. Wissen Sie eigentlich, was Sie damit anrichten? Wissen Sie eigentlich, wie viel Millionen von Menschen Sie mit solchen unverantwortlichen Äußerungen verunsichern? Haben Sie eigentlich vergessen, welche friedenspolitische Bedeutung dieser ganze Integrationsprozess in den vergangenen zwölf Jahren hatte?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt eine gesplittete Entwicklung in Osteuropa, wo die Integrationsperspektive einerseits tatsächlich zur Lösung von Nachbarschaftskonflikten und Minderheitenkonflikten geführt hat. Andererseits wissen wir heute ganz genau, dass die Probleme auf dem Balkan mit vier blutigen Kriegen auch etwas mit dem Fehlen einer gemeinsamen europäischen Politik und mit dem Fehlen einer Integrationsperspektive zu tun hatten. Deswegen hat die EU ihre Politik auch geändert.
Denken Sie einmal an die Folgekosten von diesen Konflikten, wenn Sie schon über Kosten reden. Alleine für Bosnien-Herzegowina hat die Weltgemeinschaft seit 1995 mehr als 10 Milliarden Euro ausgegeben. Das wird weitergehen. Die Kosten fallen auch im Kosovo, in Mazedonien und in der ganzen Region an. Der Integrationsprozess ist also auch ein Kosten sparender Prozess, ganz nebenbei gesagt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Erler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wissmann?

Gernot Erler (SPD): Herr Wissmann, bitte schön, gerne.

Matthias Wissmann (CDU/CSU): Herr Kollege Erler, darf ich Sie fragen, wie Sie eigentlich auf die Idee kommen, den Eindruck zu erwecken, ich hätte mich gegen die Aufnahme von Bulgarien und Rumänien gewendet, wenn ich die Frage gestellt habe - die stelle ich auch hier -, wie wir eine weitere Erweiterung der Europäischen Union verantworten können, ohne vorher zu der von uns geforderten Vertiefung gekommen zu sein? Es ist doch wohl eine gemeinsame Position in diesem Haus, dass wir genau wissen, dass es zwei Seiten einer Medaille gibt, nämlich Vertiefung und Erweiterung. Dass jeder von uns die Erweiterung um Bulgarien und Rumänien wünscht, wenn die Bedingungen erfüllt sind, ist doch nie im Zweifel geblieben.

Gernot Erler (SPD): Herr Kollege Wissmann, schauen Sie einmal in die „Berliner Zeitung" vom 16. Dezember letzten Jahres. Darin werden Sie lesen, was Sie selber gesagt haben, nämlich dass Sie diesen Zeitplan infrage stellen. Sie wissen, dass ich mich besonders mit diesen beiden Ländern beschäftige. Was Sie gesagt haben, ist unheilvoll. Es ist nicht mehr möglich, die von Ihnen verursachten Wogen wieder zu glätten. Ihre Äußerung ist unverantwortlich.

Es gibt zwar durchaus einen Zusammenhang zwischen Integrations-, Erweiterungs- und Vertiefungsprozess, aber es geht nicht an, den Zeitplan infrage zu stellen. Der Zeitplan hängt doch nur noch davon ab, ob die betreffenden Länder ihre Vorbereitungen für den Beitritt in den entsprechenden Kapiteln - das sind für Bulgarien sechs und für Rumänien noch elf - tatsächlich abschließen. Dann muss es möglich sein, dass die Zusagen, die diesen Ländern gegeben wurden, erfüllt werden. Das kann nicht wegen der Verfassungskrise in Frage gestellt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Erler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger?

Gernot Erler (SPD): Bitte sehr.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Herr Kollege Erler, im Europaausschuss befassen wir uns intensiv mit der Fortführung der Erweiterung der Europäischen Union um Bulgarien und Rumänien. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass Kommissar Verheugen, als er das letzte Mal an einer Sitzung des Europaausschusses teilgenommen hat, uns, den Abgeordneten, gegenüber deutlich gemacht hat, dass er nicht richtig nachvollziehen könne, warum von den Volksvertretern das Jahr 2007, sozusagen in Stein gemeißelt, als Datum für den Beitritt von Bulgarien und Rumänien gesetzt worden ist.

Ich frage Sie, inwiefern Sie die Position von Herrn Verheugen, der unserer Meinung nach eine hervorragende Politik betrieben hat, die am 1. Mai zum Beitritt der zehn Länder führen wird, teilen und ob Sie auch der Auffassung sind, dass der Abschluss der Vorbereitungen in den einzelnen Kapiteln entscheidend für den Vollzug der Erweiterung ist.

Gernot Erler (SPD): Darin stimme ich Ihnen völlig zu. Das habe ich doch gerade gesagt. Das entscheidende Kriterium muss sein, ob die Beitrittsvoraussetzungen erfüllt werden.

(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Eben nicht das Datum!)

Es gibt - das weiß Herr Verheugen ebenso gut wie Sie und ich - sehr klare Voraussagen, dass die Verhandlungen mit Bulgarien sogar noch in diesem Jahr und die mit Rumänien auf jeden Fall im nächsten Jahr abgeschlossen werden können. Insofern sieht die Lage sehr gut aus.

Welchen Sinn hat es, diese Länder und ihre politischen Eliten, die diesen Verhandlungsprozess mit einem großen persönlichen Risiko führen, zu verunsichern, indem die Entscheidung, die in der EU schon gefällt worden ist, nämlich dass der Januar 2007 als Zielgröße gilt, jetzt wieder infrage gestellt wird? Das ist doch nichts anderes als populistisches Gequatsche - wenn ich das einmal so nennen darf - im Zusammenhang mit der Europawahl.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Das werden wir Herrn Verheugen mitteilen!)

Ich kenne Herrn Verheugens Position zu Bulgarien und Rumänien sehr gut und weiß, dass er diesen Beitrittsprozess nicht infrage stellt.
Lassen Sie mich abschließend noch Folgendes anmerken. Ich habe vorhin über die Kosten gesprochen. Die Erfahrung hinsichtlich der Friedenspolitik und der nach Beendigung von Konflikten anfallenden Kosten hat zu einer Veränderung der europäischen Strategie geführt. Die Europäische Union verfolgt derzeit nur zwei Strategien:

Eine Strategie verfolgt die Erweiterung und den Integrationsprozess. Dabei ist völlig klar, dass Bulgarien und Rumänien eine völlig unzweideutige Zusage gegeben werden muss, immer vorausgesetzt, dass die Beitrittsbedingungen im Laufe der Verhandlungen erfüllt werden. Noch in diesem Jahr wird über den Beginn von Verhandlungen mit der Türkei entschieden. Auch mit den fünf so genannten Westbalkanstaaten stehen Verhandlungen an. Kroatien hat schon einen entsprechenden Antrag gestellt, den die EU bis spätestens April dieses Jahres beantworten wird. Wir erwarten demnächst einen Antrag von Mazedonien. Des Weiteren sind Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Albanien zusammen mit den beiden anderen Ländern im Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess. Seit dem Europäischen Rat von Thessaloniki ist klar, dass auch das eine Integrationsperspektive darstellt.

Die andere Strategie der EU besteht in der vertieften Nachbarschaft, die sich auf die außerhalb der Europäischen Union liegenden Länder, das „Wider Europe", bezieht. Eine dritte Strategie gibt es nicht.

Ihre Kopfgeburten einer privilegierten Partnerschaft oder Ähnliches bedeuten einen europäischen Sonderweg. Ich kann Ihnen nur raten: Hören Sie auf, sich für einen europäischen Sonderweg einzusetzen! Europa wird seine Identität im Hinblick auf Frieden, Stabilität und Wohlstand wahren, wenn es bei der Verlässlichkeit der Aussagen zur Integration bleibt und wenn der Geleitzug der europäischen Integration nicht bei der ersten großen Krise - in der wir uns zurzeit befinden - aus der Spur gerät.

Deswegen fordere ich Sie auf: Hören Sie auf, auf das Datum des Europawahlkampfes zu schielen! Hören Sie auf, für das beifällige Nicken von einigen Stammtischen die bisherige Verlässlichkeit infrage zu stellen!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Michael Glos (CDU/CSU): Was haben Sie gegen den Stammtisch? - Gernot Erler (SPD): Dass Sie sich dort wohl fühlen, weiß ich! - Michael Glos (CDU/CSU): Es ist kein Wunder, dass man bei 24 Prozent liegt, wenn man die Stammtische verachtet!)