Rede Gernot Erler in der 122. Sitzung des Deutschen Bundestages am 8. September 2004: Haushalt Auswärtiges Amt

Haushalt Auswärtiges Amt

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Außenpolitik und die gesamte internationale Politik der Bundesrepublik Deutschland genießen im Augenblick weltweit ein bisher nicht da gewesenes Ansehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Schäuble, ich bedauere es schon, dass Sie ein weiteres Mal nicht die Kraft hatten, dies auch nur annähernd zur Kenntnis zu nehmen, sondern dass Sie erneut Ihre kleinkarierten Anmerkungen zu Einzelfragen vorgetragen haben und diesem Hause und der deutschen Öffentlichkeit eine Auskunft über die großen Linien der Außen- und Sicherheitspolitik Ihrer Fraktion wieder schuldig geblieben sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Man muss sich schon über Ihren Mut wundern, das Thema Türkei anzusprechen. Die kürzeste Formel für die Position Ihrer Fraktion zur Türkei lautet: Mit Volker Rühe und Friedbert Pflüger für und gegen die EU-Mitgliedschaft der Türkei.

(Heiterkeit des Abg. Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das müssen Sie erst einmal in Ordnung bringen, bis Sie zu diesem Thema etwas Glaubwürdiges sagen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich habe von dem hohen Ansehen der deutschen Außenpolitik in der internationalen Politik gesprochen. Das hat seinen Grund in der konsequenten Haltung der Bundesregierung in der Irakfrage, die sich mit unserem großen und nachhaltigen Engagement in Afghanistan und vor allem auf dem Balkan verbindet. Kein Land außer den Vereinigten Staaten hat mehr Verantwortung in Afghanistan übernommen als Deutschland mit 2 250 Soldaten, unseren zwei regionalen Wiederaufbauteams und mit großen Anstrengungen für den zivilen Wiederaufbau vor Ort. Kein Land hat so viel Verantwortung in der Balkanregion übernommen wie Deutschland mit 4 600 Soldaten im Kosovo und in Bosnien-Herzegovina, mit unserer Unterstützung des Stabilitätspaktes, der SAA (Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen), also des Assoziierungsprozesses, und mit Wiederaufbaumaßnahmen in den einzelnen Ländern.

Deutschland setzt sich nach wie vor ganz entschieden für den Nahostfriedensplan, niedergelegt in der Road-map, ein. Gerade das Engagement des deutschen Außenministers Joschka Fischer in dieser Frage findet weltweit außerordentlich große Anerkennung.
Dies alles sind die Gründe für das gestiegene Ansehen Deutschlands in der internationalen Politik.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Sichtbar geworden ist dieses gestiegene Ansehen auch an zwei so nicht erwarteten Einladungen an den Bundeskanzler. Er wurde eingeladen, an der 60-Jahr-Feier des D-Day in der Normandie und an dem Gedenken des Aufstandes von Warschau teilzunehmen und dort zu sprechen. Ich muss für meine Fraktion sagen: Der deutsche Bundeskanzler hat diese beiden Einladungen in überzeugender Weise genutzt und zu beiden Anlässen kluge und einfühlsame Worte gefunden, denen weltweit hoher Respekt gezollt wurde.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich möchte ihm ausdrücklich auch im Namen der Koalition für das danken, was er dort getan hat.

Die letzten Monate waren auch von einer anderen Herausforderung für die Weltöffentlichkeit geprägt, nämlich von der menschlichen Tragödie in Darfur. Auch hier hat es ein ungewöhnlich intensives Engagement der deutschen Politik durch den Bundesaußenminister und die Staatsministerin Frau Müller sowie durch die Entwicklungsministerin Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul gegeben. Der Letzteren möchte ich herzlich für die Lösung der nicht einfachen Aufgabe danken, anlässlich des hundertjährigen Gedenkens des Hereroaufstands die richtigen Worte vor Ort zu finden. Ihr gilt dafür unser Dank und unsere Anerkennung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Schäuble, nur weil es dieses internationale Ansehen der deutschen Politik gibt, ist es realistisch, sich im Augenblick ernsthaft um eine ständige Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat zu bemühen. Das sollte eigentlich auch Ihre Unterstützung finden. Sie müssen einmal der deutschen Öffentlichkeit erklären, welche Position Sie eigentlich vertreten. Auch Sie wissen, dass sich der Sicherheitsrat in einem Reformprozess befindet. Das Wahrscheinlichste wird sein, dass die Zahl der Mitglieder auf 24 oder 25 festgelegt wird. Wollen Sie dann ernsthaft sagen, dass es für Europa ausreicht, einen einzigen Sitz unter 25 zu haben? Das kann nicht Ihre Position sein. Bei einer Erweiterung ist es in der Tat ein internationaler Wunsch, dass Deutschland auch für die Inhalte der eigenen Politik mehr Verantwortung in den Vereinten Nationen übernehmen soll. Es ist völlig unverständlich, dass das nicht Ihre Unterstützung findet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben Fortschritte erzielt - diese tragen auch zum Ansehen der deutschen Politik bei - und konnten unsere inhaltlichen Vorstellungen von Politik in der EU voranbringen. Ich rede hier vor allen Dingen von dem großen Erfolg einer gemeinsamen EU-Strategie unter dem Titel "Ein sicheres Europa in einer besseren Welt", in der wir viele unserer inhaltlichen Überzeugungen mit dem Primat von präventiver Politik, mit dem Primat von vorausschauender Friedenspolitik wiederfinden. Wir werden uns weiter mit Zustimmung vieler anderer Länder dafür einsetzen, dass sich die internationale Politik auf starke Weltorganisationen, insbesondere auf eine starke UN, stützt und sich auf die Geltung und Verteidigung des internationalen Rechts konzentriert. Dabei geht es um die Abwehr von Gefahren und um das Festhalten an internationalen Verträgen und an internationaler Vertragspolitik und natürlich auch um die konkrete Lösung von gefährlichen regionalen Konflikten.

Damit komme ich zu den aktuellen Ereignissen in der Russischen Föderation und in Beslan. Die russische Gesellschaft hat in der Tat in den letzten Tagen eine Eruption von Gewalt erlebt und eine bisher noch nicht da gewesene Serie von brutalsten Anschlägen ertragen müssen. Innerhalb von einer Woche wurden zwei Flugzeuge zum Absturz gebracht, dabei gab es 90 Tote. Bei einem Selbstmordattentat mitten in Moskau wurden 11 Menschen getötet. Das Grauen von Beslan hat mindestens 335 Tote gefordert, davon sind mehr als die Hälfte Kinder. Es ist kein Zufall, dass sich diese Serie von Attentaten um den Tag der tschetschenischen Präsidentschaftswahl gruppiert hat.

Die russische Gesellschaft steht unter Schock und ist traumatisiert. Es ist dort ein Gefühl von Verlassensein verbreitet. Für uns besteht jetzt das Wichtigste darin, für die betroffenen Menschen vor Ort eine Demonstration der tätigen und sichtbaren Unterstützung und Solidarität auf die Beine zu stellen. Dazu sind jede Form von Hilfe, jede medizinische und psychologische Unterstützung und menschliche Kontakte notwendig.

Das Gefährlichste und Falscheste wäre jetzt eine Einigelung Russlands als Reaktion auf diesen Schock. Wir haben die Absage des Deutschlandbesuchs des russischen Präsidenten mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Wir haben in dieser Lage aber auch Verständnis dafür. Wir werden jedoch die Chance nutzen, die sich in den nächsten zwei Tagen mit dem 4. Petersburger Dialog in Hamburg bietet, um mit unseren Partnern sowie unseren Kolleginnen und Kollegen aus Russland intensive Gespräche zu führen.

Jeder von uns wird in den nächsten Tagen und auch in den nächsten Wochen und Monaten nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit ausgestreckter Hand in diese Gespräche gehen. Die richtige Form, auf diese Situation zu reagieren, ist die, dass wir versuchen, gemeinsame und richtige Antworten in dieser bedrohlichen Situation zu finden.

Ausgangspunkt dabei müssen unsere gemeinsamen Sorgen sein, die in diesen Tagen zunehmend auch in der russischen Gesellschaft formuliert werden. Wir müssen darüber sprechen, wie realistisch die bisherigen Erfolgsmeldungen der russischen Regierung in Sachen Lösung des Konflikts, die so genannte Tschetschenisierung des Konflikts, gewesen sind. Wir brauchen in Wirklichkeit eine ehrliche Bestandsaufnahme als Ausgangspunkt für alle weitere Zusammenarbeit in diesem Feld.

Es muss geklärt werden, was eine politische Lösung, zu der sich auch der russische Präsident wiederholt bekannt hat, eigentlich bedeutet. Natürlich kann das nicht heißen, Verhandlungen mit feigen Kindermördern zu führen. Es gibt aber andere Elemente, die man erörtern muss,

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!)

zum Beispiel warum die Basis dieser gewaltbereiten Terroristen nicht kleiner, sondern offensichtlich größer wird, immer wieder nachwächst, und welche Rolle dabei die anhaltende Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, die Drangsalierung der Zivilbevölkerung in Tschetschenien spielt, teilweise durchgeführt - das muss man leider sagen - durch korrupte Teile der russischen Sicherheitskräfte, aber auch durch diese Milizen des Herrn Kadyrow, die so genannten Kadyrowsy,

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Da liegen Sie richtig! Sie sollten einmal im Kanzleramt vortragen! Ich glaube nicht, dass Herr Schröder das auch so sieht!)

die illegal gegen die eigene Bevölkerung vorgehen.

Weiterhin ist zu klären, welche Rolle bei der politischen Lösung eine glaubwürdige ökonomische und so-ziale Perspektive für die tschetschenische Bevölkerung und die ganze Region des Nordkaukasus spielt. Es war Präsident Putin selber, der sich im Mai bei einer Reise in die Region davon überzeugen konnte, dass die Milliarden Rubel, die dort investiert werden, offensichtlich gar nicht dort ankommen, wo sie hin sollen. Das trägt zu dieser Hoffnungslosigkeit vor Ort bei.

Diese Verbindung von fehlender Perspektive und Menschenrechtsverletzungen rechtfertigt keine Form von Gewalt. Es ist aber wichtig zu erkennen, dass sie womöglich für dieses Nachwachsen der Gewaltbereitschaft mit Verantwortung trägt.

Ingesamt sind wir davon überzeugt: Unser Nachbar und Partner Russland braucht jetzt viel Kraft, um die furchtbaren Prüfungen zu bestehen und um klug und wirksam zu reagieren und sich nicht in Hass- und Rachegefühlen zu verlieren. Wir sind bereit, dabei Partner zu sein. Wir sind aber auch überzeugt, dass nur eine offene Gesellschaft die Kraft, die dort benötigt wird, aufbringen kann, eine Gesellschaft, die eine transparente Regierungspolitik öffentlich diskutiert. Diese Kraft, die benötigt wird, um mit diesen Herausforderungen fertig zu werden, kann nur von einer funktionierenden Zivilgesellschaft aufgebracht werden.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

In diesem Sinne sind wir bereit, in dieser Situation Partner von Russland zu sein. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP])