Rede Gernot Erler in der 135. Sitzung des Deutschen Bundestages am 28. Oktober 2004: Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei

Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Absicht des Bundeskanzlers, am 17. Dezember in Brüssel für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu stimmen, und sie tut dies einmütig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir wünschen uns, dass diese Verhandlungen, die lange dauern werden, erfolgreich sind. Ziel der Verhandlungen kann nur der Beitritt der Türkei zur EU sein. Über etwas anderes, Herr Kollege Schäuble, wird am 17. Dezember nicht entschieden.Eine Automatik auf dem Weg zu diesem Ziel - auch das steht im Bericht der Kommission - kann es in der Tat nicht geben. Der Entscheidung der europäischen Staats- und Regierungschefs am 17. Dezember werden Tausende von Einzelentscheidungen sowohl in der Türkei als auch in der EU folgen. Jetzt wird ein langer Prozess der Abwägung und der Vorbereitung abgeschlossen, zugleich aber ein langer und anstrengender Prozess von Reform und Transformation eröffnet. Er birgt nicht unerhebliche Risiken, aber auch große Chancen für die EU und für Deutschland.

Wir wollen, dass der Weg für diese Beitrittsverhandlungen frei gemacht wird, weil diese Entscheidung im Interesse Deutschlands und im Interesse der EU liegt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es liegt in unserem Interesse, dass die EU glaubwürdig bleibt. Es liegt in unserem Interesse, dass der Veränderungsprozess in der Türkei unumkehrbar gemacht und im Zuge des Verhandlungsprozesses konsequent fortgesetzt wird. Es liegt in unserem Interesse, dass die gesicherte Beitrittsperspektive den wirtschaftlichen Aufschwung dieses für Deutschland so wichtigen Wirtschaftspartners verstetigt und beschleunigt. Es liegt in unserem Interesse, dass die 4 Millionen Türken in der EU, von denen 2,5 Millionen in Deutschland leben, mit der Beitrittsperspektive ihre Integrationsbemühungen vertiefen und verstärken.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es liegt in unserem Interesse - Herr Kollege Schäuble, ich glaube, da haben Sie mit dieser Brücke etwas falsch verstanden -, dass die Türkei als eine große islamisch geprägte Gesellschaft vor aller Welt den Beweis dafür erbringt, dass Islam und westliche Werte miteinander vereinbar sind, weil dies die denkbar beste und wirksamste Antwort auf jene blutigen Strategen des Terrorismus ist, die den Kampf der Kulturen predigen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte etwas zum Stichwort Glaubwürdigkeit sagen. Seit 81 Jahren gibt es die moderne, von Kemal Atatürk gegründete Türkei. Ich möchte schon jetzt von dieser Stelle aus der türkischen Republik zum morgigen Nationalfeiertag, der in Berlin bereits heute gefeiert wird, im Namen des ganzen Hauses herzlich gratulieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Seit 41 Jahren hat die Türkei ein Assoziationsabkommen mit Beitrittsperspektive. Seit neun Jahren hat die Türkei eine Zollunion mit der EU. Seit fünf Jahren ist die Türkei offizielle Beitrittskandidatin. Vor zwei Jahren hat der Europäische Rat klare Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen formuliert. Das hat eindrucksvolle Reformbemühungen in Ankara ausgelöst. Ich bin Ihnen dankbar, Herr Kollege Schäuble, dass auch Sie das anerkennen. Die Türkei hat in kürzester Zeit acht Reformpakete auf den Weg gebracht. Sie hat die Todesstrafe abgeschafft. Sie hat Folter und andere Menschenrechtsverletzungen verboten und verfolgt Verstöße dagegen, die es nach wie vor gibt. Die Türkei hat die Staatssicherheitsgerichte abgeschafft. Die Türkei hat den Einfluss des Militärs auf Politik und Gesellschaft spürbar reduziert. Sie hat angefangen, Kurden und anderen Minderheiten kulturelle Rechte zu geben, und sie hat Beschränkungen bei der Meinungs- und Versammlungsfreiheit aufgehoben.

(Michael Glos (CDU/CSU): Ist ja toll! Das sind Selbstverständlichkeiten!)

Natürlich kann man sagen: Das reicht alles nicht. Natürlich kann man sagen: Da fehlt noch etwas. Natürlich kann man sagen: Erlass eines Gesetzes bedeutet nicht gleich Umsetzung. All das ist zulässig. So ist die Europäische Kommission auch an die Sache herangegangen; sie hat all das berücksichtigt und sorgfältig abgewogen. Das Ergebnis ist in dem einen entscheidenden Satz der Kommissionsempfehlung festgehalten, den ich hier zitieren möchte. Da heißt es:

In Anbetracht der allgemeinen Fortschritte im Reformprozess und unter der Voraussetzung, dass die Türkei die oben genannten, noch ausstehenden Gesetze in Kraft setzt, ist die Kommission der Auffassung, dass die Türkei die politischen Kriterien in ausreichendem Maß erfüllt, und empfiehlt die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen.

(Beifall bei der SPD)

Wir sagen: Ja, das überzeugt uns. Das ist eine verantwortungsvolle und faire Empfehlung am Ende einer Vorbereitungszeit von 41 Jahren. Deswegen wollen und werden wir dieser Empfehlung folgen.

Wenn die EU nach dieser endlosen Reihe des Aufzeigens von Perspektiven, der Unterbreitung von Zusagen und des Erhebens von Forderungen und nach den eindrucksvollen Bemühungen von türkischer Seite, diesen langen Weg mitzugehen und alle Forderungen zu erfüllen, im letzten Moment sagen würde: „Nein, Entschuldigung, jetzt treffen wir eine grundsätzlich völlig andere Entscheidung", dann stellt sich doch die Frage, wer künftig dieser EU noch trauen und vertrauen soll.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich denke dabei nicht nur an die Türkei, deren Empörung dann alle verstehen würden, sondern an alle Länder, denen die EU in der letzten Zeit Zusagen gemacht hat: an die zehn neuen Beitrittsländer, an Bulgarien und Rumänien, denen schon ein Beitrittstermin genannt wurde, an Kroatien, mit dem ab 2005 verhandelt werden soll, an die vier anderen Westbalkanstaaten, denen eine Perspektive eröffnet wurde, sowie an die Ukraine und 13 andere Staaten, denen mit dem neuen Nachbarschaftskonzept auch bestimmte Zusagen gemacht, wenn auch keine Beitrittsperspektiven eröffnet wurden. Wer also sollte bei so einem Nein in letzter Minute nach 41 Jahren Vorbereitung der EU überhaupt noch etwas glauben? Aber genau das, einen solchen Schwenk in letzter Minute, Herr Kollege Schäuble, empfiehlt die CDU/CSU der EU.

Da gibt es ein neues Zauberwort - auch Sie haben es hier mehrfach bemüht -: privilegierte Partnerschaft. Im Antrag der CDU/CSU, der ausgerechnet den Titel „Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die Türkei" trägt, sucht man vergeblich nach einer Definition oder wenigstens einer Beschreibung von privilegierter Partnerschaft. Soll sie das umfassen, was die Türkei mit dem Assoziationsabkommen seit 41 Jahren hat? Soll sie das umfassen, was mit der Zollunion ausgedrückt wird, die mit der Türkei seit neun Jahren besteht? Soll es das sein, was im Rahmen des neuen Nachbarschaftskonzeptes angeboten wird? In Ihrem Antrag findet man dazu keinerlei Auskunft. Stattdessen machen Sie es sich ganz leicht. In Ihrem Antrag für ein glaubwürdiges Angebot heißt es dazu - ich darf das zitieren -:
Seitens der EU sollte auf dem Gipfel im Dezember der Türkei das Angebot einer privilegierten Partnerschaft mit der Europäischen Union gemacht werden. Der Europäische Rat sollte der Europäischen Kommission den Auftrag erteilen, in Kürze Möglichkeiten und Wege zu präsentieren, wie ein solches besonderes Verhältnis der Türkei und anderer Länder zu Europa in eine angemessene Form gebracht werden kann. Dabei können konzeptionelle Vorarbeiten aus den Reihen der EVP-Fraktion des Europäischen Parlaments entsprechend berücksichtigt werden.

Was heißt das?
(Franz Müntefering (SPD): Dünnbrettbohrer!)

Das heißt auf Deutsch: Die CDU/CSU sagt, sie wolle keine Beitrittsverhandlungen und keinen Beitritt der Türkei, sondern stattdessen die privilegierte Partnerschaft. Man wisse zwar nicht, was das ist, aber es soll gefälligst die Europäische Kommission definieren, was das eigentlich ist.

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Stimmt ja gar nicht!)

Also etwas, von dem wir nicht wissen, was es ist, sollen die europäischen Staats- und Regierungschefs am 17. Dezember der Türkei empfehlen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, der Volksmund hat für ein solches Angebot einen trefflichen Begriff: Mogelpackung.

(Beifall der Abg. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Das Hantieren mit einer Mogelpackung passt zu allem, was Sie in letzter Zeit im Zusammenhang mit der Türkeifrage tun.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Am vorletzten Wochenende war dem Kollegen Glos - was manchmal passiert - wohl langweilig. Deshalb hat er eine Kugel ins Rollen gebracht: das Thema Unterschriftenaktion gegen den Türkeibeitritt. Parteichefin Merkel traute sich nicht, dieses Spiel mit dem Feuer gleich zu unterbinden, und erklärte es erst einmal für eine ganz gute Idee. Dann brach quer durch die Republik, auch in Ihren Reihen, ein Sturm der Entrüstung los und nach drei Tagen war der ganze Spuk vorbei. Das ist wahrlich Führungsfähigkeit, auf die Deutschland und Europa warten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist ein wirklich verantwortungsvoller Umgang mit einer Schicksalsfrage, wie Sie es neuerdings nennen. Man kann ja mal etwas andeuten, ins Rohr schieben, um zu testen, wie die Reaktionen sind. Weltpolitik als Überraschungsei, das ist Ihr Umgang mit der Europäischen Union.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt hat sich Herr Glos etwas Neues ausgedacht, gestern nachzulesen in der „FAZ". Die neue Parole heißt: Bei einem EU-Beitritt der Türkei wird Deutschland von Türken überschwemmt und dabei untergehen, allerdings nicht aus Versehen, sondern ganz absichtsvoll, weil die Linken, die jetzt Deutschland führen, das so wollen. Wörtlich, Herr Kollege Glos, werden Sie so zitiert - ich darf das hier vortragen; Sie werden ja gern zitiert -:

Diejenigen, die derzeit Deutschland führen, haben mit Deutschland überhaupt nichts am Hut. Man macht Deutschland für einmalige Verbrechen in der Vergangenheit als Land verantwortlich. Daher rührt auch so eine Art Deutschenhass in manchen Kreisen, weshalb man in Teilen der Linken hofft, dass es Deutschland nicht mehr gibt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unglaublich! - Zurufe von der SPD: Pfui! - Unverschämte Frechheit!)

Wenn schon keine Unterschriftenaktion, dann malt man wenigstens die Pantürkisierung ganz Europas und den Untergang Deutschlands als Folge des Selbsthasses der linken Verhandlungsbefürworter an die Wand. Das ist auch für Ihre Verhältnisse, Herr Glos, eine unglaubliche Entgleisung, die eigentlich Klärung fordert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sonst müssen Sie sich nicht wundern, wenn man Sie demnächst fragt, ob mit Ihnen noch alles in Ordnung ist.

Oder, Herr Glos, liegt das etwa daran, dass Sie Ihre eigene Vergangenheit aufarbeiten müssen? Manchmal hilft ja ein gutes Archiv, um etwas zu erklären. Jedenfalls haben Sie am 17. Dezember 1997, direkt nach dem Europäischen Rat von Helsinki, eine interessante Presseerklärung herausgegeben. Aus dieser möchte ich drei Sätze zitieren.

Erster Satz: Es ist nicht nur im deutschen, sondern im europäischen Interesse, die Türkei an Europa zu binden.

(Beifall bei der SPD)

Zweiter Satz: Es dient nicht europäischen Interessen, wenn die Türkei auf ihrem Weg nach Europa durch Übertaktieren vor den Kopf gestoßen wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dritter Satz: Am Ziel darf es keinen Zweifel geben: Es ist vor allem im deutschen Interesse, die Türkei in Europa zu sehen!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Peter Hintze (CDU/CSU): Das stimmt doch alles!)

Sie waren also offenbar schon einmal weiter als heute. Sie brauchten bloß Ihren eigenen Empfehlungen zu folgen. Lassen Sie das Übertaktieren mit der privilegierten Partnerschaft, machen Sie sich Ihren eigenen Rat zu Eigen, dann sind Sie unterwegs und wir können noch Hoffnung haben!

Auf jeden Fall, meine Damen und Herren, gehen wir mit den unbestreitbaren Risiken dieses Integrationsprozesses und den daraus abgeleiteten Sorgen und Bedenken vieler Menschen anders um. Wir und auch die EU-Kommission nehmen sie ernst. Das ist der Grund dafür, dass die Kommission für eine neue Konzeption der Verhandlungen eintritt, mit einer viel strengeren Überprüfung der Reformfortschritte als bisher, mit Sonderregelungen bis hin zu eventuellen unbefristeten Schutzklauseln etwa bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit, ja sogar mit der Perspektive einer Aussetzung der Verhandlungen bei ernsthaften Rückschritten bei den Zielen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte.

Das ist die seriöse Antwort auf die Fragen besorgter Menschen in unserem Land. Das sind genügend Leitplanken, um zu verhindern, dass der Integrationsgeleitzug vom Wege abkommt. Wir werden dafür sorgen, dass diese Empfehlungen auch Beachtung finden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir teilen auch die Meinung der Kommission: Bei aller Schwierigkeit des Weges, den wir die nächsten anderthalb Jahrzehnte gemeinsam mit der Türkei gehen werden - die Chancen und Vorteile für die EU und für unser Land überwiegen. Das muss den Ausschlag geben, wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs am 17. Dezember ihre Entscheidung treffen werden.

Wir unterstützen mit allem Nachdruck ein Ja für einen Beginn der Beitrittsverhandlungen im Jahr 2005.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)